Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Dritter Band. (3)

  
22 Die evangelische Kirche und Theologie. VIII. Buch. 
  
Auf der anderen Seite fühlte sich die stark 
angewachsene Schar der Freunde der 1886 
noch im Sinne des Rischlianismus gegründeten „Christlichen Welt“ durch die sich seit 
dem Apostolikumstreit verschärfende Lage veranlaßt sich (1903) als „Freunde der Christ- 
lichen Welt“ zu organisieren und in ihr Programm einige wichtige, wenn auch gemäßigte 
liberale kirchenpolitische Forderungen aufzunehmen. Auch der Protestantenverein 
ist wieder mobil geworden und für sein altes Programm in den Kampf eingetreten. Vor 
allem aber haben sich die radikaleren Elemente der gesamten Linken in den 1905 unter 
Traubs Führung zunächst für das Rheinland und Westfalen gegründeten Vereinen der 
„Freunde evangelischer Freiheit“ gesammelt. DOiese haben sich inzwischen über fast 
alle evangelischen Landeskirchen verbreitet und überall eine außerordentliche Alktivität 
entfaltet. 
Liberale Kampfesorganisationen. 
  
Uberhaupt gilt es für rechts und links, daß die neuesten Parteien 
und Organisationen wesentlich schärfer und radikaler vorgehen, 
als die älteren. Zn Bremen hat sich unter Kalthoffs Führung ein Radikalismus 
entwickelt, der den Ubergang zum Monismus (Steudel) bereits vollzogen hat, 
während Männer wie Jatho und einige weniger bedeutende, aber ebenso unruhige 
Geister sich augenscheinlich auf der Grenzlinie bewegen. So spitzen sich die Gegensätze 
immer schärfer und bewußter zu. Sie sind an einem Punkte angekommen, wo nicht nur 
jede Verständigung, sondern jede sachliche Auseinandersetzung unmöglich geworden zu 
sein scheint. 
Radikalismus. 
  
Oiejenigen, die sich den Blick für die Sache 
und die sachliche Berechtigung dessen, was auf 
beiden Seiten vertreten wird, nicht trüben lassen wollen und zur Mäßigung mahnen, 
haben einen schweren Stand und eine undankbare Aufgabe. Indem sie vor Uber- 
spannung der Gegensätze warnen, das Gemeinsame des Besitzes und der Aufgaben 
gegenüber den trennenden Parteien betonen, und wenigstens für die kirchliche Praxis nach 
einem Einigungsboden suchen, erscheinen den extremen Geistern rechts und links, welche 
überall, vor allem in der kirchlichen Presse das Wort führen, als die „Halben“, welchen 
einen „faulen Frieden“ begünstigen, oder gar als die „Unwahrhaftigen“, welche die Wahr- 
heit verleugnen und die „landeskirchliche Form“ über die „Wahrheit“ stellen. Und doch 
wird alles davon abhängen, ob diese Vertreter der Mäßigung mit ihrer Stimme durch- 
dringen. Das Schicksal der Evangelischen Kirche hängt geradezu davon ab, ob der Geist 
der Mäßigung, der über den Parteien steht, in den kirchlichen Kämpfen die Ober- 
hand gewinnt. Denn die extremen Forderungen sowohl der Rechten als der Linken 
werden in ihrer Undurchführbarkeit immer erkennbarer. Die Wiederherstellung der hi- 
storischen Bekenntniskirchen mit ihrer strengen Auffassung und Handhabung der Be- 
kenntnisverpflichtung und Lehrzucht ist unter den gegenwärtigen Verhältnissen ebenso 
unmöglich geworden, wie die Aufhebung jeder Bekenntnisbindung und die Proklamierung 
unbegrenzter Lehrfreiheit. Weder in einer gänzlich staatsfreien Kirche, wie sie ja von 
Notwendigkeit der Mäßigung. 
  
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