VIII. Buch. Die evangelische Kirche und Tdecologie. 27
für die Kirche bedrohlich genug erscheinen. Der Eindruck bei den altkirchlichen Kreisen
und ihren Führern ist darum auch vielfach der: Es geht rapide bergab mit der Thceologie,
unaufhaltsam dem völligen Nuin entgegen. Tatsache ist ja auch, daß die beschriebene
inmerkirchliche Krisis im engsten Zusammenhang mit der neuesten theologischen Ent-
wicklung steht. Der Liberalismus von einst wird zum Radikalismus von heute, der jeden
religiösen Boden unter den Füßen zu verlieren scheint. Die Positiven scheinen immer
mehr Konzessionen an die „Wissenschaft“ zu machen. Mancher sieht schon den Tag kom-
men, wo die ganze Theologie in ein- und derselben Verdammnis steckt. Sie werden
immer weniger, die dem Baal nicht geopfert haben.
Und in der Tat vergleicht man die Alt-Ritschlianer mit den modernen
Keligionsgeschichtlern und die Frankianer und Luthardtianer von damale mit
den heutigen Modern-Positiven, so scheint sich eine verhängnisvolle Perspektive
zu eröffnen. Hort wie hier die offensichtliche Tendenz nach links. Nur daß bier der
Prozeß sich etwas langsamer vollzieht als dort. Die Positioen scheinen nur das Privileg
der polpphemischen Höhle zu haben.
Oie Ritschlsche Schule. Als Wilhelm ll. den Thron bestieg, stand die Schule
Die Franksche. Ritschls, der 1889 starb, auf dem Höhepunkt ihres
Ansehens und Einflusses. Der dritte Band von „Recht-
fertigung und Versöhnung“, der das Sofstem enthielt, erschien 1888 in 3. Auflage. Die
theologischen Fakultäten waren überall mit Kitschls Schülern besetzt, deren Haupt-
werke fast alle aus dieser Zeit herauskamen. Der ältere (protestantenverein-
liche) Liberalismus war ebenso überflügelt, wie die Vermittlungstheologie
überwunden. Die Fitschlsche Theologie entfaltete nicht bloß auf spstematischem und
bistorischem Gebiete eine bedeutende Kraft, sondern barg einen kräftigen kirchlichen
Seist und eine Fülle warmer und praktischer Frömmigkeit in sich. Heute erkennen
das selbst strengpositive Theologen an. Damals sahen die Altgläubigen in den
Kitschlianern die gefährlichsten Feinde der Kirche. Der Kampf gegen die Ritschlsche
Theologie, in dem die Führer der Rechten, Frank und Luthardt, in erster Reihe
standen, gehört zu den heftigsten und zugleich bedauerlichsten Kämpfen der neueren
Kirchengeschichte. Damals fielen zuerst die bösen Worte „Falschmünzerei“ und „Um-
deutung“. Und doch besaßen die beiden Antipoden sehr viel des Gemeinsamen: die
starke Betonung des Lutherischen und Christozentrischen, des Offenbarungspositivismus
und des ezklusiven, absoluten Charakters des Christentums; der religiösen Subjek-
tivität und der gläubigen Gemeinde als Voraussetzung aller Theologie; die Absperrung
der Theologie gegen die Philosophie und der Dogmatik gegen die Wissenschaft, die Ab-
neigung gegen die Apologetik usw. Das sind nicht geringe Berührungspunkte, die aber
gänzlich in der Leidenschaft der Kämpfe gegen den Hauptstreit um das „Metapho-
sische" im Christentum zurücktraten. Die Positiven sahen in der „Metaphpsikfeindlichkeit“
KRitschls eine versteckte Berleugnung des Supranaturalismus. In Wirklichkeit wa-
ren es viel mehr zwei allerdings diametral verschiedene Erkenntnistheorien, als Glaubens--
differenzen, die miteinander stritten. Es war nicht der Supranaturalismus, sondern
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