VIII. Buch. Die evangelische Kirche und Cheologie. 31
Geltung, in der das Christentum steht, irgendwie dem Umstande zu verdanken sei, daß
die rein wissenschaftliche Untersuchung von ihm ferngehalten wird. Fa er muß wissen,
inwieweit die Religion, der er einen absoluten Tharakter zuschreibt, als eine innerwelt-
liche Erscheinung erkannt werden kann. Gerade ihm muß ja doch im höchsten Maße
daran gelegen sein, daß die menschliche Seite der Offenbarungsreligion in ihrem ganzen
Umfange deutlich werde, damit alles, was niemals Gegenstand des Glaubens werden
kann, weil es Gegenstand des Wissens ist, sich immer schärfer abgrenze, und so der evan-
gelische Glaube vor der Versumpfung bewahrt bleibe. Diesen Dienst kann nur eine
rein historische Bearbeitung des Christentums der Religion leisten. Die evangelische
Kirche darf deshalb nicht mit dem Zeugnis zurückhalten, daß sie der historisch-kritischen
A##rbe it niemals entraten kann, um so weniger, je konsequenter und methodischer sie
verfähet.
Solange freilich auch in der evangelischen
Kirche der Traditionalismus das Interesse
an der Reinerhaltung des Glaubensbegriffes überwiegt — und diese Gefahr besteht
auch heute noch —, wird sie der historischen Kritik dieses Zeugnis versagen. Sie wird
voller Furcht auf die immer fortschreitenden Reduktionen binstarren, welche jene an
dem geschichtlichen Material des Christentums vollzieht und vollziehen muß. Diese
duantitative Betrachtungsweise beherrscht auch heute noch weite kirchliche Kreise. In ihnen
regiert die Furcht vor der Wissenschaft. Das Wort „Religionsgeschichte“ ist für sie ein
Schreckgespenst.
Auf der anderen Seite wächst erfreulicherweise die Zahl der positiven Theologen,
denen immermehr die Augen darüber aufgehen, wohin der kirchliche Traditionalis-
mus mit solchen Anschauungen führt, und welche sich dem religionsgeschichtlichen Zuge der
Zeit rückhaltlos hingeben. IZn ihnen ist der wissenschaftliche Sinn erwacht, der der Neu-
Orthodoxie fehlte und heute noch fehlt. Fa, wir machen die Beobachtung, daß der unter
der Herrschaft der Orthodozie lange zurückgedrängte wissenschaftliche Sinn in ihren En-
keln nun um so energischer durchbricht. Diese im modernen Sinne Positiven können der
apostolischen Forderung: die Vernunft gefangen zu nehmen unter den Gehorsam Christi,
nicht mehr die alte Auslegung geben, daß es Pflicht sei, gewissen historischen Fragen gegen-
über das wissenschaftliche Gewissen zu unterdrücken. Fa man gewinnt den Eindruck, daß
diese „Positiven“ für die religionsgeschichtlichen Probleme viel aufgeschlossener sind als
mancher Ritschlianer.
Sefahr des Traditionalismus.
Allerdings an einem Punkte entspringt ein prin-
zipieller Gegensatz, nicht gegen die religions-
geschichtliche Forschungsmethode, wohl aber gegen die
öreligionsgeschichtliche Schule“, wenn diese unter der Führung ihres Methodikers und
Sostematikers Ernst Troeltsch behauptet, daß jede konsequente historische Forschung
die bisherige christliche Dogmatik aufhebe und zu einer völligen Umgestaltung und
Neubegründung einer christlich bestimmten Weltanschauung auf philosophischer Grund-
Prinzipieller Gegensatz
gegen die neue Schule.
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