VIII. Buch. Die evangelische Kirche und Theologie. 35
anzuwendenden Methoden, wohl aber hinsichtlich ihrer Tragweite besteht. Oie
Neuprotestanten überschätzen die irkungen des Historismus, überschreiten zuweilen die
Erenzen der historischen Begriffsbildung, ähnlich so wie vorher die Naturalisten (mit
denen sie übrigens nicht verglichen werden sollen) die Grenzen der naturwissenschaft-
lichen. Was sich der Methode, die doch nur ein Auswahlverfahren darstellt, nicht
fügen will, wird vielfach als ungeschichtlich verdächtigt. Als ob die Grenzen des bistorisch
Feststellbaren auch die Grenzen der Wirklichkeit wären. Die Historie findet natürlich nur
einen Zesus, der immer mehr zusammenschrumpft. Wird der Glaube auf diesen beschränkt,
so muß er freilich auch zusammenschrumpfen. Aber darauf kann man doch nur kommen,
wenn man die Gebiete des Wissens und Glaubens vermischt wie einst, wenn auch mit
dem entgegengesetzten Resultat, die orthodoxe Theologie. Der Neuprotestantismus mutet
in dieser Beziehung zuweilen als die umgekehrte Orthodoxie an. Die modernkirchliche
Theologie lernt andere Wege gehen. Sie kommt oft zu denselben historisch-kritischen
Resultaten wie jener. Aber sie zieht andere Schlüsse daraus. Sie unterscheidet, was
sie im Namen der Wissenschaft und was im Namen des GElaubens über Zesus auszu-
sagen vermag. Sie verhehlt sich keinen Augenblick, daß dieses weit über jenes hinausgeht,
aber auch hinausgehen muß und kann. Darum denkt sie bei voller Aufgeschlossenheit gegen-
üÜber der Wissenschaft nicht daran, dem Historismus die Absolutheit des Christentums, die
supranaturale Offenbarung, die Heilsgeschichte und den Christus des Glaubens zu opfern.
Ich glaube, daß allein durch die konsequente Verfolgung dieser Aufgabe all-
mählich ein Boden zu gewinnen ist, auf dem ein neues Verhältnis von Wissenschaft und
Kirche begründet werden kann — in einer Theclogie, die sich mit der Wissenschaft und
mit der sich die Kirche zu verständigen vermag. Gewiß wird ein solcher Gleichgewichts-
zustand nur annähernd und nicht ein für allemal zu erreichen sein. Es kann auch noch
nicht davon die Rede sein, daß er schon bestände. Aber der unbefangen Prüfende wird
doch sagen dürfen, daß eine zukunftskräftige und produktive Theologie in der Gegenwart
sich diesem Ziele nähert.
Faßt man diese im Entstehen begriffene neue Literatur ins Auge, so gewinnt das
Urteil innere Berechtigung, daß die Entfremdung zwischen Kirche und Theologie, die sich
im 19. Zahrhundert immer mehr vergrößerte und schließlich durch den Neuprotestantis-
mus und Historismus ein bisher in der gesamten Kirchengeschichte kaum dagewesenes
Maß erreichte, ihren Höhepunkt bereits überschritten hat.
Der Historismus hat auf die kirchliche Theologie den denkbar stärksten Angriff ge-
macht. Er hatte ohne Zweifel die Tendenz in sich, den kirchlichen Charakter der Theologie
überhaupt zu neutralisieren. Das ist ihm nicht gelungen und wird ihm nicht gelingen.
Zwar hat er den ganzen bisherigen theologischen Besitz der Kirche in Frage gestellt und
zu einer gründlichen Revision der Uberlieferung genötigt. Ja mehr als das! Er vermochte
den durch die kirchliche Restauration wiederhergestellten Bekenntnischarakter der evange-
lischen Kirche zu neutralisieren. Eine völlig neue Situation ist dadurch geschaffen. Aber
schon jetzt wird deutlich erkennbar, daß das Ergebnis der theologischen Entwicklung eine
neue Synthese von Wissenschaftlichkeit und Kirchlichkeit sein wird, keine de-
finitive Scheidung beider.
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