Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Dritter Band. (3)

  
36 Oie evangelische Kirche und Cheologie. VIII. Buch. 
  
Zukunftsaussicht. Diese Aussicht gehört zu den hoffnungsvollsten Spmptomen 
der gegenwärtigen kirchlichen Lage. Das muß man den 
kirchlichen Pessimisten unserer Tage sagen. HOie kirchliche Theologie im weitesten 
Sinn ist im Begriff, nicht nur die fast verloren gegangenen Anrechte der Kirche 
an die Wissenschaft unserer Zeit wiederherzustellen, sondern durch die Uberführung 
des wissenschaftlichen Geistes der Gegenwart in die klirchliche Gedankenwelt, ein ganz 
neues Erkenntnisstadium für die Kirche herbeizuführen. Erkennen wir es doch 
endlich: die Kirche wäre zugrunde gegangen, wenn sie auf dem Erkenntnisstandpunkt, 
auf dem die Neuorthodoxie sie festhalten wollte, stehen geblieben wäre. Sie wäre an 
der Stagnation des intellektuellen Lebens verkümmert. Es mußte eine Krisis kommen, 
die zunächst mit der ganzen Uberlieferung aufzuräumen schien. Oieser Schein hat 
manche allzulange getäuscht und geängstigt. Die aus dem intellektuellen Gleichgewicht 
gekommene Kirche beginnt sich nun theologisch zu befestigen. Der Tag ist nicht fern, 
an dem die Notwendigkeit und Heilsamkeit des ganzen Erschütterungsprozesses auch von 
denen anerkannt werden wird, die jetzt noch nichts als Wirrwarr sehen. 
  
Das Erreichbare. Daß jemals wieder der Zustand eintreten wird, der im Mittel- 
alter und in der Ara der altprotestantischen Theologie herrschte, 
der der kirchlichen Homogenität der gesamten Theologie, ist allerdings nicht zu erwarten, 
aber auch nicht nötig, nicht eimmal wünschenswert. Die Spannung, welche das neuere 
Geistesleben in das Berhältnis von Kirche und Wissenschaft hineingebracht hat, läßt sich 
nicht wieder ganz beseitigen. Es wäre das auch weder für die Kirche noch für die Theo- 
logie gut. Einmal würde das eine äußere Beschränkung der Freiheit der Forschung, des 
Spielraums des rein wissenschaftlichen Gedankens in der Theologie vorauesetzen, welche 
den Prinzipien der Reformation widerspräche. Sodann würde mit der Spannung leicht 
eine lebendige Kraft des Fortschritts beseitigt werden. Die Theologie, auch die kirchliche, 
bat den Entwicklungsgedanken in sich ausgenommen und muß dem Rechnung tragen. 
Lediglich darauf kommt es an, daß die Spannung nicht bis zum Gegensatz überhaupt 
ausarte. 
Die Kirche hat unter der großen Entfremdung von der Wissenschaft unsäglich gelitten. 
Sie verlor durch sie immer mehr die Fühlung mit dem ODenken der Zeit. Sie wurde 
immer untheologischer im 19. Jahrhundert. Die Spuren davon lassen sich auf allen Ge- 
bieten des kirchlichen Lebens verfolgen. Uberall sehen wir die alte Theologie das kirch- 
liche Denken beherrschen. Infolgedessen konnte die Kirche ihre erzieherischen Aufgaben 
an dem neuen Geschlecht nicht erfüllen. 
Die Theologie ist eine notwendige Lebensfunktion der Kirche, deren intellektuelles 
Leben verkümmern muß, wenn es nicht im fortdauernden geistigen Leben der Zeit er- 
balten wird. In dieser Gefahr ist die Kirche schon öfter gewesen, auch im 19. Jahrhundert. 
Davon wird das Schicksal unserer Volkskirche abhängen, ob es ihr gelingen 
wird, ohne Einbuße an religiösem Gehalt eine Synthese mit dem fortgeschrittenen 
wissenschaftlichen Geist unserer Zeit einzugehen. An Aussicht dafür und Ansätzen dazu 
feblt es nicht. 
  
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