38 Oie evangelische Kirche und Theologie. VIII. Buch.
literarisch und philosophisch gegenwärtig erlebt. Man braucht nur zweier Tatsachen
sich zu erinnern, einmal, daß fast die gesamte Literatur nicht nur unserer Klassiker, son-
dern auch unserer idealistischen Philosophen in neuen Ausgaben vor uns liegt; sondern,
daß eine Philosophie und Weltanschauungslehre sich gegenwärtig machtvoll Bahn bricht,
die sich ihrer Abstammung von unseren großen deutschen Idealisten deutlich bewußt
ist. Dadurch aber wird auch die Herkunft des religiösen Aufschwunge Uar, der sich anzu-
bahnen beginnt. Denn die tiefsten Wurzeln des Idealismus sind stets religiöser Natur
gewesen und mit dem Grundgedanken des Christentums auf das engste ver-
wachsen. Das trat vor allem in der nationalen Erhebung von 1813 hervor.
Ringen nach idealistischer Gewiß, ebensowenig wie sich dieser neue Welt-
anschauungsidealismus bereits in der gegen-
wärtigen Philosophie überall negierend durchgesetzt
hat, kann die Wendung zu religiösem Leben als eine vollendete Tatsache angesehen
werden. In der Philosophie liegen die Dinge so, daß, wiewohl der rein natura-
listische Monismus, sei es in Haeckelscher oder in Ostwaldscher Gestalt, als über-
wunden anzusehen ist, dennoch die herrschende Philosophie, soweit man von einer solchen
reden kann, immer noch sehr stark unter dem Einfluß naturwissenschaftlicher Methode
und Begriffsbildung steht. Das beweisen so weit verbreitete Sosteme, wie die von
W. Wundt, Fr. Paulsen, Ed. v. Hartmann und vielen anderen, in denen es die grund-
sätzlich naturwissenschaftliche Denkweise nicht zu einem reinen Zdealismus kommen läßt.
Aber die sachliche Leidenschaft, gedankliche Schärfe und Tiefe, mit der andererseits Männer
wie Eucken, Windelband, Rickert, Husserl, Hermann Leser und viele andere
darum ringen, unserem Volke die seiner Geschichte und seinem Genius, seinen Gaben
und Aufgaben entsprechende echt idealistische Weltanschauung aus den reichen
Quellen der deutschen Vergangenheit neu zu erringen, zeigt schon jetzt, namentlich durch
ihre starken Wirkungen auf die akademische Zugend, daß sie sich durchsetzen wird. Die Zahl
derer wird täglich größer, die sich um die Fahne des neuen und doch alten Idealismus
scharen. Wir haben es mit einer Bewegung zu tun, die weit über das rein akademische
Interesse hinausgreift. Diejenigen, welche in dieser Bewegung stehen, sind sich der Trag-
weite ihres Tuns und Strebens bewußt. Es handelt sich um einen neuen Ourchbruch
ursprünglich geistigen Lebens in der deutschen Nation. Oas ist die große Aufgabe, die
jur weltgeschichtlichen Tat werden will, das Leben des deutschen Volkes aus dem na-
turalistischen Bann, in dem es gefangen liegt, zu befreien und es in allen seinen Funk-
tionen in jener Welt des Geistes, der ewigen Normen und Werte zu verankern, in der
die edelsten Kämpfer und tiefsten Denker deutscher Geschichte von jeher die wahre Wirk-
lichkeit empfunden und verehrt haben. Davon, ob dieses Streben zu seinem Ziele kommt,
wird das innere Schicksal unseres Volkes abhängig sein.
Weltanschauung.
Um Lebensvertiefung und Ipge-
staltung ringt dieser Idealismus, nicht
um Theorien und Abstraktionen. Eine
Überwindung des Intellektualismus
und Individualismus.
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