VIII. Buch. Oie evangelische Kirche und Theologie. 39
viel tiefere und umfassendere Tendenz steckt in ihm als die bloßwissenschaftliche. Bei
aller streng wissenschaftlicher Methodik, die ihm eigen ist, will er doch das deutsche
Geistesleben von dem unfruchtbaren Intellektualismus befreien, der jedes Leben
aus dem Ganzen und Vollen unmöglich macht, die Gedanken festhält im irdischen
Lebenskreis und jedes Vordringen zur Ursprünglichkeit, zum Ewigen und Göttlichen
verhindert. Auf der anderen Seite gilt es ihm die Uberwindung seines Gegenstückes,
des haltlosen Individualismus, in dem das auf sich selbst gestellte Einzelleben
in ohnmächtigen Versuchen, aus eigenen Kräften über sich selbst hinwegzugelangen,
sich erschöpft. Eine neue ursprüngliche Lebensrichtung will dieser Zdealismus der Ge-
samtheit geben, indem er das Leben des Einzelnen und der Einzelnen aus der Zufällig-
keit der bloßen Naturbestimmtheit löst und in lebendigen Kontakt setzt mit dem über-
individuellen und überweltlichen Geistesleben, welches in der Geschichte nach
charaktervoller Ausprägung im menschlichen Lebenskreis ringt und dem Tatcharakter
des Geistes innerhalb des bloß Natürlichen und Gegenständlichen zur persönlichen
Wirklichkeit verhilft.
Wendung zu neuer Neligiosität. Mit dem Aufkommen dieses Zdealismus hängt
— sei es bewußt oder unbewußt — zweifel-
los die bezeichnete Wendung zu neuer Religiosität zusammen, ja sie bildet seinen
tiefsten Kern. Denn eine solche idealistische Lebenserfassung beruht und kann nur be-
ruhen auf dem, was in der Religion Offenbarung, Gotteserlebnis heißt. Darum unter-
scheidet sie sich auch gründlich von dem modernen religiösen Individualiszmus, der ästhe-
tischen Gefühlsfrömmigkeit oder der mystischen Stimmungereligiosität, die
wir schon längere Zeit unter uns haben, wobei die Religion in Vorgängen, die in der
Zuständlichkeit des einzelnen aufgehen, gesucht wird. Eine solche Religiosität bloßer
pspchischer Zuständlichkeit mag ja in zahlreichen literarischen und künstlerischen Erzeug-
nissen der Gegenwart viel Wesen von sich machen. Zu einer Regeneration des Volkes
wird sie niemals führen.
Selbständiger Rückgang auf den Darin beweist vielmehr das neue religiöse
Grundgehalt des Christentume. Streben, das dem Zdealismus innewohnt,
seine Uberlegenheit über die moderne indivi-
dualistische Religiosität, daß es dem religiösen Leben des Einzelnen wieder einen festen
Halt in allgemeingültigen Normen der Weltanschauung und Lebensgestaltung geben
will. Dabei tritt immer deutlicher hervor, daß nur ein energisches Zurückgehen auf die
Grundideen und den Urgehalt des geschichtlichen Christentums, zu diesem Ziele führen
kann. Allerdings steht hier auch wieder der Intellektualismus im Wege, der von einer
möglichst treuen Repristination des theologischen Dogmas alles Heil erwartet. Das
entspricht nicht dem Tatcharakter des Geistes und der Forderung ursprünglichen Er-
lebens, ohne die der Zdealismus zur bloßen Theorie würde. Es handelt sich vielmehr
um ein Neuerleben und Neugewinnen und darum auch um ein Neugestalten und
Weiterbilden geschichtlich ererbter Güter. Darum, ob und daß der neue Idealismus
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