VIII. Buch. Die evangelische Kirche und Theologie. 41
und Verständnis für religiöses Leben, insbesondere für die Gestalt Zesu in den letzten
Zahren bedeutend zugenommen. Dieser Umschwung läßt sich aber weder aus der vom
Ausland zu uns gekommenen, in verschiedenen Formen bei uns eingebürgerten und
bis in die Kreise unserer Studentenschaft vorgedrungenen religiös-christlichen Fugend-
bewegung, noch aus den parallelen vereinsmäßigen Bestrebungen der organisierten
Inneren Mission erklären, soviel auch diesen Bestrebungen zu danken sein mag. Viel-
mehr ist in unserer deutschen Zugend augenblicklich offenbar etwas Selbständiges, Spon-
tanes, Bodenständiges im Werden begriffen, das sich vielfach unter ungünstigen Um-
gebungsbedingungen, ja mitten unter den Miseren des modernen Religionsunter-
richtes emporgearbeitet hat und in einer gesunden Reaktion gegen das Krankhafte,
Enge und Beschränkte des vom Auslande importierten religiösen Geistes begriffen ist.
Zedenfalls schlägt die deutsch-christliche Studentenbewegung in steigendem Maße gesunde
Bahnen ein.
Die Gemeinschaftsbewegung. In diesem Zusammenhange ist auch die Ge-
— meinschaftsbewegung zu nennen, deren Auf-
treten und Verbreitung für das hinter uns liegende Menschenalter charakteristisch ist.
Sie ist zwar wie zahlreiche Sekten, welche inzwischen in unser zerklüftetes evangelisches
Kirchengebiet eingedrungen sind, englisch-amerikanischer Herkunft und trotz
ihrer außerordentlichen Propaganda im großen und ganzen auf bestimmte innerkirch-
liche Kreise beschränkt geblieben, während von einer nennenswerten Gewinnung der
entchristlichten Volksmassen durch ihre Evangelisation und Gemeinschaftspflege nicht die
Rede sein kann. Aber sie vermochte ihren tatsächlichen Einfluß doch nur dadurch zu er-
reichen, daß sie sich starker religiöser Bedürfnisse bemächtigte, welche die Kirche in ihrer da-
maligen Verfassung nicht zu befriedigen vermochte. Frren wir nicht, so beginnt sich auch
in den Kreisen des sonst als kirchenfeindlich bekannten Flügels der Gemeinschaftsbewe-
gung ein gefünderer, weltoffenerer und selbständigerer Geist, der seine Zufuhr aus jenen
neuen nationalen, idealistischen und religiösen Ompulsen unserer Zeit zu erhalten scheint.
Nähere Bestimmung Ein Oreifaches ist noch zur näheren Bestimmung der im
Entstehen begriffenen Wendung zur Religion zu bemerken.
Einmal liegt es in der Natur der Sache, daß die An-
kündigungen des Neuen, das da werden will, in einem Augenblick, wo noch alles im
Stadium der ersten Vorbereitung liegt, mehr Gegenstand feinfühliger Empfindung als
greifbarer Wahrnehmung ist. Sodann geht zweifellos diese Bewegung einen Weg, der
sich der allgemeinen Beobachtung entzieht, den Weg von oben nach unten, denselben
Weg, den auch seinerzeit der Unglaube gegangen ist. Endlich aber marschiert, wie über-
haupt oft in der Geschichte der Frömmigkeit, die moderne Religiosität keineswegs ohne
weiteres pari passu mit der Kirchlichkeit. Aus den Gründen sind nicht wenige kirchliche
Beobachter, welche nach den greifbaren Merkmalen, volkstümlichen Ursprüngen und
kirchlichen Tendenzen einer neuen Frömmigkeit suchen, überhaupt abgeneigt, die Tat-
sache einer Wendung zum Besseren zuzugeben.
des Umschwungs.
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