VIII. Buch. Die evangelische Kirche und Cheologie. 43
innerliche und äußerliche Erweiterung des evangelischen Kirchengedankens, der eine
boffentlich nicht mehr allzu ferne Zukunft gehören wird. Niemand kann dafür ein
schärferes Auge und ein tätigeres Znteresse beweisen als der Kaiser. Es ist kein Zu-
fall, daß gerade seiner Kegierung dieser Aufschwung der kirchlichen Arbeitsgemein-
schaften vorbehalten blieb. Die erfreuliche Zubiläumsspende für die deutsche Kolonial-
mission ist die Quittung für die intellektuelle und materielle Mitarbeit des Kaisers und
seines Hauses an den umfassenden Aufgaben der evangelischen Kirche.
Die Innere Mission hat sich in den letzten Jahrzehnten
außerordentlich entwickelt, erweitert, vereinheitlicht, vertieft.
In großer Zahl sind ihr neue Vereine, Anstalten und Ar-
beitsfelder entstanden. Persönlichkeiten wie Bodelschwingh und Stöcker haben
die fruchtbarsten Ompulse gegeben. Stöcker ist durch das gewaltige Werk der Berliner
Stadtmission der Vater einer sich nachgerade über alle Groß- und Mittelstädte er-
streckenden Stadtmissionstätigkeit geworden. Bodelschwingh hat in den letzten Jahren
seines Lebens die Augen geöffnet für die Riesenaufgaben, die aus der Not der vaga-
bundierenden, heimat- und arbeitslosen Bevölkerung erwachsen. Mächtige Anstöße gab
nach vielen Richtungen hin die soziale Frage und die soziale Gesetzgebung des
Reiches. Zwar hat hier die Kirche lange Zeit gebraucht und viel Lehrgeld zahlen müssen,
ehe sie zu begreifen anfing, wo ihre sozialen Aufgaben liegen und wo nicht. Der soziale
Ubereifer auf kirchlichem Boden, der in der Stöckerschen Bewegung kirchlich und
erangelisch nicht unbedenkliche Wege einschlug und Ubergriffe der Religion und ihrer Ver-
treter in das politische und gesetzgeberisch-technische Gebiet verursachte, hat längst ein
ruhigeres und besonneneres Tempo eingeschlagen. Von den beiden ursprünglich vereinten
freien Organisatonen, welche den sozialen Gedanken in seiner Beziehung zur Kirche und
Keligion grundsätzlich vertreten, sucht der freier gerichtete Evangelisch-soziale Kon-
greß sein Ziel vor allem durch gründliche Orientierung über die sozialen Probleme und
Aufgaben unserer Zeit sowie durch Weckung sozialer Gesinnung zu erreichen, während die
kirchlich-soziale Konferenz, in engster Berührung mit der Kirche und Praxis stehend,
für unmittelbare Anregungen und Anstöße zu sozialer Arbeit sorgt. Daneben gewinnt auch
in der Arbeit der Inneren Mission im engeren Sinne das soziale Element immer mehr
an Einfluß. Es ist zu hoffen, nachdem seit 1908 der Geist Wicherns wieder lebendiger
zum Bewußtsein gekommen ist, daß die Innere Mission in ihrer umfassenden Arbeit
immer mehr die organische Verbindung zwischen dem religiösen und dem sozialen Ge-
sichtspunkte findet. Unter ihren besonders ausgebauten alten und den hinzugekommenen
neuen Aufgaben seien besonders hervorgehoben: die Organisierung der Arbeit an der
Presse, die männliche und weibliche Diakonie, die Fürsorgeerziehung und die Zugend-
arbeit, die Krippen- und Krüppelpflege. An einem außerordentlich wichtigen Punkt
aber hat sie sich den Anforderungen der Zeit neuerdings in besonderem Maße er-
schlossen und dadurch einen wichtigen Schritt vorwärts getan, daß sie sich unter dem
Eindruck der akuten Weltanschauungskrisis, die etwa um die Wende des Jahrhunderts
über uns kam und alle Kreise der Bevölkerung ergriff, mit großem Eifer der Mitarbeit
Innere MNission.
Soziale Frage.
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