Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Dritter Band. (3)

  
VIIl. Buch. Oie evangelische Kirche und Theologie. n 
  
2. 
Oer letzte Teil unserer Untersuchung hat 
uns gezeigt, daß die Krisis, in der sich die 
evangelische Kirche seit längerer Zeit befindet, keineswegs, wie viele meinen, rein nega- 
tiver und destruktiver Art ist, sondern auch neue und fruchtbare Momente in sich birgt. 
Sie befindet sich in einem Ubergangsstadium. Altes stirbt ab, aber zugleich will 
sich ein Neues gestalten. Das Alte und das Neue ringen noch miteinander. Das 
macht die Lage unserer Kirche so schwierig und undurchsichtig. Die altprotestantische 
Konfessionskirche, welche durch die Kirchenrestauration in der ersten Hälfte des 19. Jahr- 
hunderts noch einmal wiederhergestellt werden sollte, erliegt immer mehr den Ein- 
flüssen der modernen Lebens- und Geistesentwicklung. Andererseits bereiten sich mitten 
aus dieser Krisis heraus zukunftskräftige Ansätze zu einer neuen Kirchenform 
vor, eine Erweiterung, ja Vertiefung des reformatorischen Kirchengedankens. Den or- 
ganischen Ubergang von einem zum anderen zu finden, das ist die Hauptaufgabe der 
Gegenwart und Zukunft. Riemand hat sie llarer erfaßt als der Kaiser. Das spricht 
sich immer wieder in seinen religiösen Kundgebungen aus. Es ist eine wichtige 
kirchengeschichtliche Erscheinung, daß der Oberbischof des größten evangelischen Kirchen- 
körpers Deutschlands das bezeichnete UÜbergangsstadium mit vollem Bewußtsein und 
tiefem Verständnis durchlebt und die Notwendigkeit seiner „Weiterbilbung“" empfiehlt 
und ausspricht. 
N#emand kann die endgültige Gestalt der Zukunftskirche voraussagen. Aber die 
RKichtung läßt sich jetzt schon bestimmen, in der die Weiterbildung sich vollziehen wird. 
Kingen des Neuen mit dem Alten. 
  
Die Tage der konfessionellen Lehrkirche im 
alten Sinne sind gezählt. Vergeblich arbeitet 
eine rechts-radikale Partei an ihrer Wiederherstellung. Lebensformen, die geistes- 
geschichtlich überwunden sind, lassen sich nicht einfach wiederherstellen. Und so steht 
es mit jener Kirchenform. Das Dogmatische, die religiöse Theorie, das Lehrhafte des 
Glaubens, besitzt heute nicht mehr die Tragkraft, wie einst zur Zeit des Intellektualis-- 
mus. Es kann nicht für alle Zeiten der ausschließliche Träger der Kirche sein, auch dann 
nicht, wenn das religiöse Erkenntnisleben im 16. oder 17. Jahrhundert stehen geblieben 
wäre. Aber erst recht nicht, wenn sich, wie gezeigt wurde, gerade auf diesem Gebiete 
eine derartige Umwandlung vollzogen hat, daß auch der konfessionellste Theologe sich 
nur mit den allerstärksten Einschränkungen auf die Bekenntnisse verpflichten 
kann. Die Bekenntnisverpflichtung hat heute auch für den denkbar konservatirsten 
Geistlichen einen ganz anderen Sinn als im 17. Jahrhundert. Es ist für uns alle ganz 
unmöglich geworden, uns zu den dogmatischen Theorien, Spekulationen, Formeln und 
Oeduktionen, der Bibelauslegung, den Geschichtsauffassungen und dem Weltbild jener 
Jeit zu bekennen. Wer das Gewicht dieser Tatsache verkennt, dem fehlt jeder Sinn 
nicht nur für das Wesen der Geschichte, sondern auch des Protestantismus. Der 
Protestantismus fordert im Unterschiede von dem Katholizismus, der nur unveränder- 
Richtlinien für die Zukunft. 
  
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