Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Dritter Band. (3)

  
VIII. Buch. Oie evangelische Kirche und Theologie. 51 
  
niskirche bleiben muß und kann. Insofern nämlich, als sie sich als Ganzes und in ihren 
einzelnen Gliedern und Dienern stets von neuem zu jenem Lebensprinzip der Reforma- 
tion, zu ihrer ursprünglichen Heilserfahrung in Zesus Christus und damit zu der 
Kraft bekennt, die auch ihr Leben hervorbringt und trägt. Diesen und keinen anderen 
Sinn hat das „bekennen“ und „Bekenntnis“ sowohl im Urchristentum als auch in 
der Reformation gehabt, aber in der Epigonenzeit ist er verloren. Zu diesem ursprüng- 
lichen Sinn des Bekenntnisses sollen wir zurückkehren. 
Damit ist auch der künftigen Bekenntnisverpflich- 
tung der Weg gewiesen. Uber den Sinn solcher Ver- 
pflichtung wird gegenwärtig heiß gestritten. Klar ist 
zweierlei, einmal, daß keine Kirche ohne Bekenntnis und Bekenntnisverpflichtung bestehen 
kann. Sodann, daß eine Verpflichtung im alten Sinn, d. h. eine Verpflichtung auf den 
gesamten Lehrinhalt eines Corpus doctrinae heutzutage unmöglich ist. Ein ehrlicher Aus- 
weg aus diesem Dilemma ist nur möglich, wenn die Verpflichtung das Bekenntnis zu 
dem reformatorischen Grunderlebnis bedeutet, mit dessen nicht irrtumsloser Deu- 
tung sich die einzelnen Glaubensartikel beschäftigen. Hinter dieser tieferen Auffassung der 
Bekenntnisverpflichtung bleiben solche Verpflichtungsformeln zurück, welche anstatt des 
vollen Tenors der reformatorischen Heilserfahrung einzelne, noch dazu willkürlich aus- 
gewählte „Glaubensartikel“ enthalten. 
Neuer Sinn der 
Bekenntnisverpflichtung. 
  
  
Schranke in der Verpflichtung. Ein solches Bekenntnis zu den Lebensprinzipien 
der Reformation, wie es in der evangelischen 
Kirche zum wenigsten jedem Amtsträger muß zugemutet werden können, begründet auch 
ein bestimmtes Maß von gemeinsamer Erkenntnis, welches den Nadikalismus und No- 
nismus von selber ausschließt. Es enthält, wiewohl nicht in erster Linie lehrhafter Art, 
doch eine deutliche Begrenzung der Lehrfreiheit, die nicht überschritten werden 
darf. Andererseits aber läßt sie den dogmatischen Spielraum, den der einzelne auf 
reformatorischem Boden beanspruchen kann. Der Radikalismus wird sich eher mit einer 
Formel, die den Lehrgehalt, als einer solchen, die den Lebensgehalt der Reformation 
zum Ausdruck zu bringen sucht, abfinden. Zene kann er leichter umdeuten als diese. Ein 
unfehlbares Mittel aber, andersgläubige Bewerber mit Sicherheit von den kirchlichen 
Amtern fernzuhalten, hat nicht einmal die strengste Form der Konfessionskirche gefunden. 
Es kann also auch der modernen Kirche billigerweise nicht zugemutet werden. 
  
Allerdings wird es nicht die Aufgabe der 
modernen Kirche sein können, dem theo- 
logischen und kirchlichen Liberalismus das Heimatsrecht zu wehren. Eine doppelte 
Erkenntnis bricht sich in dieser Beziehung immer mehr auch in positiven Kreisen Bahn. 
Einmal, daß „positiv“ und „liberal“ keineswegs gleichbedeutend ist mit „gläubig“ und 
aungläubig“. Sodann, daß die evangelische Kirche dem Liberalismus außerordentlich 
viel zu danken hat. Er ist der Träger eines für den Protestantismus völlig unentbehr- 
Spielraum in der Verpflichtung. 
  
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