52 Die evangelische Kirche und Cheologie. VIII. Buch.
lich kritischen und fortschrittlichen Elements und damit ein fortdauerndes Prophylak-
tikum gegen die Stagnation. Er ist es auch, der um seiner größeren Weltoffenheit und
Aufgeschlossenheit dem Kulturleben gegenüber in der Lage ist, der immer drohenden
Entfremdung zwischen Kirche und natürlichem Geistesleben vorzubeugen. Soll aber
der religiöse Liberalismus seine Aufgabe an der Kirche und in der Kirche erhalten, so
bedarf er eines großen Maßes von Bewegungefreiheit. Und das eine muß allerdings
mit vollem Ernst von ihm gefordert werden: daß er die Kirche bejaht, sich in ihrem Dienst
fühlt und an ihrem Leben teilnimmt. Ein unkirchlicher Liberalismus wird sich auch ganz
von selber aus dem kirchlichen Leben ausschalten.
ODer Gegensatz zwischen „positiv“ und „li-
beral“ ist der tote Punkt in der gegen-
wärtigen Kirche. So unentbehrlich er als Nuancierungs- und Differenzierungselement für
das Leben der Kirche ist, so notwendig muß er in seiner gegenwärtigen Form überwunden
werden. Es sind deren heute aber nicht wenige, deren Parole: Zenseits von positiv
und liberal lautet. Dahin müssen wir kommen, daß dieser Gegensatz für die eigent-
liche kirchliche Praxis seine Bedeutung verliert. Dazu bedarf es freilich für den Liberalis-
mus einer energischen religiösen Selbstbesinnung, für den Konservativismus aber end-
lich einmal einer rückhaltlosen Anerkennung der durch die NReformation gewährleisteten
christlichen Freiheit. Die Bereitschaft zu solcher sittlichen Einkehr wird erfreulicher-
weise immer größer. Wie der moderne Staat, so bedarf auch die evangelische Kirche
zu ihrem Gedeihen sowohl des beharrlichen wie des fortschrittlichen Moments.
Oiese Richtlinien ergeben sich aus der Vertiefung, die der evangelische Kirchen-
begriff erlebt hat. Aber seine Wandlung erstreckt sich auch in die Breite.
Überwindung des toten Punktes.
Zu den großen Aufgaben, welche die evan-
gelische Kirche im 19. Zahrhundert in An-
griff genommen hat, hat sie ein Leben gewonnen, welches nicht nur über dasjenige
der Einzelgemeinden, sondern auch der einzelnen Landeskirchen hinausragt und nicht
nur die territorial, sondern sogar die konfessionell geschiedenen Kirchenkörper in großen
Arbeitsgemeinschaften zu gemeinsamer Lebensäußerung und Tätigkeit vereinigt hat. Die
großen Organisationen der Inneren und AÄAußeren Mission, der Gustav-Adolf-Vereine usw.,
deren enorme Entwickelung in dem letzten Menschenalter bereits geschildert ist, hbaben von
innen heraus die landeskirchlichen und konfessionellen Schranken innerhalb des Protestan-
tismus durchbrochen und uns eine tatsächlich in gemeinsamer Arbeit eins gewordene Gesamt-
kirche zum Bewußtsein und zur Anerkennung gebracht. So ist die Entwicklung gegangen,
daß immer mehr gesamtkirchliche Aufgaben des Protestantismus in den Gesichtskreis der
evangelischen Kirche getreten sind, eben solche, die kein einzelner Kirchenkörper für sich er-
füllen konnte. So hat sich eine auf gemeinsame Arbeit gegründete evangelische
Kirchensolidarität herausgebildet, welcheje längerje mehr nach einer zusammenfassenden
äußeren Oarstellung drängt. Immer neue Aufgaben kommen hinzu, neuerdings die soziale
und apologetische. Die Isolierung der einzelnen Kirchenkörper wird immer unmöglicher.
Erweiterung des Kirchenbegriffes.
1020