54 Die evangelische Kirche und Cheologie. VIII. Buch.
nen, ein stetiges Wachstum innerer Befruchtung des Staatslebens seitens der Kirche
treten. Umgekehrt würde die Kirche in diesem erweiterten Sinne durch den Staat für
ihre Arbeit und Aufgaben Förderung und Anregung empfangen. Endlich würde das
erreicht, was ja doch zuletzt ein hohes Ziel aller kirchlichen Arbeit sein muß: innerliche
Durchdringung des Staatslebens mit dem Geiste des Christentums, Volks-
christianisierung im besten und tiefsten Sinne des Wortes. In diesem Sinne hat die
Kirche allerdings die Aufgabe, im „Staate aufzugehen“. Denkbar wäre ein so innerlich-
ethisches Verhältnis beider, daß die Lösung der äußerlichen Verbindung nur noch eine
Formalität bedeuten würde.
Das Ziel. Vertiefung und Erweiterung des evangelischen Kirchengedankens
— und Kirchentums — das ist die Richtung, in der unsere Aufgaben
liegen. Aur so kann die kirchliche Krisis überwunden und das kirchliche Leben neu be-
gründet werden. Eine große Anzahl von Einzelaufgaben liegen hier, die nicht be-
sprochen werden können.
Die Kirche ist bereits in das so bezeichnete Entwickelungsstadium eingetreten. Biel-
leicht schon energischer und weiter, als wir augenblicklich noch unter dem Einfluß der
Krisis sehen können.
Roch kein Hohenzoller ist vor so schwierige kirchliche Aufgaben als evangelischer
Oberbischof gestellt worden als Wilhelm II. Unter seine Regierung fällt der Höhepunkt
der Krisis und zugleich der Beginn eines kirchlichen Weiterbildungsprozesses von Höchster
Bedeutung. Mit vollem Bewußtsein der Lage der Dinge waltet der Monarch seines
bohen Amtes. Mit vorsichtiger, aber fester Hand lenkt er das Steuer dem llar erkannten
Ziele zu. Möchte es ihm beschieden sein, seinem evangelischen Volke die Kirche der Refor-
mation in neuer gefestigter Gestalt wiederzugeben. Wir schließen mit den Worten, mit
denen ein bedeutender Kenner der kirchlichen Situation, der heimgegangene Bürger-
meister Burchard, seine ungehaltene, für die Begrüßung Seiner WMajestät des Kaisers
gelegentlich der Einweihung der großen St. Michaeliskirche in Hamburg bestimmte
Kede in dem hinterlassenen Manustkript geschlossen hat:
„Es wäre zu begrüßen, wenn der auf politischem Gebiete längst als
segensreich erkannte deutsche Einheitsgedanke in wohlerwogener Be-
grenzung auch für weite Gebiete des evangelisch-kirchlichen Lebens in
unserem Vaterlande fruchtbar werden möchte.“
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