Die katholische Kirche
Von D. Dr. Sebastian Merkle, Professor a. d. Universität Würzburg
Als es sich im Vorfrühlinge des Zahres 1888 darum handelte, in welcher Weise die
Gedächtnisfeier für Wilhelm I. in den katholischen Kirchen begangen werden sollte,
da war es für den stillen Beobachter ein rührendes Schauspiel, wie in dem alten Stadt-
pfarrer von Schwäbisch-Gmünd die patriotische Begeisterung für den ersten Kaiser des
neuen Reiches mit den kandnischen Vorschriften über das Verhalten der Kirche gegenüber
verstorbenen Altkatholiken im Streite lag. Natürlich mußte schließlich das Herz sich dem
Gesetze fügen. Aber wie er die Feier gestaltet hätte, wenn es mehr nach jenem als nach
der dogmatischen Konsequenz gegangen wäre, daraus machte der greise Anton Pfitzer
seinem vertrauten BVikar gegenüber kein Hehl. Anno achtundvierzig hatte der noch junge
Mann seinen großdeutschen Sommernachtstraum geträumt. Nachmals war er den
Anschauungen, die sein Namensvetter Paul Pfizer in dem „Briefwechsel zweier Deut-
scher“ und in dem Liede von den schwäbischen Kaiserbergen ausgesprochen hatte, immer
näher gekommen, und die Erfüllung der Sehnsucht seiner Zugend- und Mannesjahre
hatte der Fünfziger mit Jubel begrüßt. Als nun Kaiser Wilhelm l. seine Augen schloß,
da flammte in dem Siebzigjährigen die Begeisterung für die Ideale seiner Zugend
noch einmal leuchtend empor. Der Kulturkampf, der so manchen deutschen Katholiken
in einen schmerzlichen Konflikt zwischen Vaterlandsliebe und religiöser UÜberzeugung
gebracht, und den auch die katholischen Württemberger von ihrer Friedensoase aus mit
treuer Teilnahme verfolgt hatten, war in der Hauptsache beigelegt, man konnte wieder
freudig deutsch und aufrichtig katholisch zugleich sein. Felix Dahns ergreifendes, zwei-
sprachiges Trauerliedd auf Kaiser Barbablanka gab der Größe des Augenblicks machtvollen
Ausdruck. „Der Mann, in dem das Träumen und Sehnen meines Lebens sich erfüllt
hat, verdient auch im Tode eine besondere Ehrung“, das war der Gedanke des alten
Pfarrers.
Dieses Stimmungsbild durfte unsere Betrachtung einleiten; denn was in dem Seel-
sorger der ehemaligen Reichsstadt sich abspielte, das wiederholte sich bei Hunderten, bei
Tausenden katholischer Geistlicher und Laien im Süden wie im Norden. Wer inmitten
der damaligen Sorgen und Nöte — der erste Kaiser tot, der zweite zum Tode krank,
der dritte für die seiner harrende schwere Aufgabe scheinbar noch allzu jung — hätte vor-
aussagen können, daß der Enkel in fünfundzwanzigjähriger Friedensarbeit gerade auf
kirchlichem Gebiete das meiste von dem fortführen und vollenden werde, was der Groß-
vater so verheißungsvoll begonnen! Dem greisen schwäbischen Pfarrer war nur mehr
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