Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Dritter Band. (3)

  
56 Die katholische Kirche. VIII. Buch. 
  
das Morgenrot des neuen Tages zu schauen vergönnt. Heute blicken die deutschen Katho- 
liken auf ein an Segnungen und Erfolgen reiches Bierteljahrhundert zurück. 
Staat und Kirche. I. Eine Würdigung des katholisch-kirchlichen Lebens während 
der Regierungszeit Wilhelms II. muß ausgehen von dem 
Verhältnisse zwischen Staat und Kirche, wie es sich im verflossenen Zahrhundert 
entwickelt hatte. Die Voraussetzungen, unter denen die Kirche ihre Wirksamkeit zu entfalten 
hat, sind von solchem Einflusse auf Richtung, Art und Umfang der letzteren, daß ohne 
Kenntnis jenes Verhältnisses ein tieferes Verständnis der kirchlichen Vorgänge gar 
nicht möglich wäre. 
Kein zweites Land stellt so enorme Anforderungen an die Klugheit und den Gerechtig- 
keitssinn seines Herrschers, wie das Deutsche Reich. Denn wenn die Religion die heiligste 
und innerlichste Angelegenheit des Menschenherzens ist, und wenn darum die religiösen 
Gegensätze am tiefsten in das Volksleben eingreifen und am schwersten auszugleichen 
sind, so hat der deutsche Kaiser, in dessen Reiche wie in keinem anderen die Verschieden= 
beit der Konfessionen sich geltend macht, mit Schwierigkeiten wie kein anderer Monarch 
zu kämpfen. Und der Bergleich mit der Vergangenheit wird deutlicher als alles andere 
die Verdienste beleuchten, welche unser dermaliger Kaiser sich um die religiöse Pazifi- 
kation seines Staates Preußen wie des Reiches erworben hat. 
  
u früheren Fahrzehnten. Kaum daß das neue Neich gegründet war, hatte 
die Stellung der katholischen Kirche zum preußi- 
schen Staate — und in anderen deutschen Landen fand das Vorbild des führenden 
Staates Nachahmung — eine arge Störung erfahren. Zu ihrem Verständnis müssen 
wir etwas zurückgreifen. Unmittelbar nach der Säkularisation war infolge des 
Zusammenbruchs der geistlichen Staaten, der dadurch bedingten vollständigen Umge- 
staltung aller Verhältnisse und namentlich dank den napoleonischen Kriegen trotgz der 
begreiflichen Mißstimmung weiter katholischer Kreise keine Zeit, um an religiöse Gegen- 
sätze zu denken. Die Not lehrte beten, aber zugleich über die dogmatischen Unterschiede 
hinwegsehen. Die gemeinsame Gefahr drängte die sonst verschiedene Wege gehenden 
Brüder eng zufammen. Als aber nach glücklicher Uberwindung des Bedrängers weder 
von politischer noch von kirchlicher Freiheit die NRede war, mußte sich die Friedensstim- 
mung allmählich verlieren. Wie wenig Preußen mit dem paritätischen Staat Ernst 
machen werde, davon hatte schon im Jahre 1802 eine Kundgebung des Ministeriums des 
TBußern eine Vorahnung gegeben, in der die Ansicht ausgesprochen worden war, in der 
Mischehenfrage „müßten dem Protestanten die Gesetze zu Hilfe sein“. Auch die Deklara- 
tion vom 21. November 1803 hatte „den von Sr. Mojestät ausgesprochenen Zweck der 
Beschützung des evangelischen Glaubens“. Wenngleich nun die Schriftstücke mit diesen 
zweifelhaften paritätischen Grundsätzen erst viel später (1831) allgemein bekannt wurden, 
so waren diese letzteren doch bald aus den Taten erkenntlich, und nach Veröffentlichung 
jener Aktenstücke wurde die Stimmung der Katholiken ungünstig genug beeinflußt. Daß 
der Wiener Kongreß auch die bescheidensten Erwartungen in kirchlicher Hinsicht unerfüllt 
  
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