62 Die katholische Kirche. VIll. Buch.
Gewerbeordnungsnovelle, die Handelsverträge, das Bürgerliche Gesetzbuch für das
Deutsche Reich, ausgiebige Bewilligungen für das Landheer wie namentlich für die
Marine, die Lieblingsschöpfung des Kaisers, die unserem Volke verheißungereiche,
glänzende Perspektiven eröffnet hat. In der auswärtigen Politik machte das Zentrum
es sich „zur Gewissenssache, bis an die äußerste Grenze der Möglichkeit zu gehen, um ohne
alle Parteiunterschiede den Reichstag geschlossen an der Seite der Reichsregierung zu
halten“. In diesen Vorgängen spiegeln sich ähnliche auf anderen Gebieten ab. Uberall
ist auch bei Elementen, die hierfür am wenigsten zugänglich schienen, ein Wandel erfolgt,
wie man ihn ein Jahrzehnt vorher in den kühnsten Träumen nicht zu ahnen gewagt
hätte.
Freilich konnte diese für jeden Verständigen
hocherfreuliche Entwickelung sich nicht voll-
ziehen, ohne daß ein rückständiges Epigonentum von entgegengesetzten Seiten her
seinem Mißfallen Ausdruck gegeben hätte. Aber wenn eine Politik lediglich von Schlag-
wörtern lebt, die durch die Umgestaltung der realen Verhältnisse längst ihres Gehaltes
entleert wurden, so kann ihre absprechende Kritik nur eine Gegenprobe für die Richtig-
keit des Geschehenen bedeuten. Die einen fanden, daß die katholische Partei unter Windt-
horst „energischer und oppositioneller“ gewesen sei, und sahen in deren Zusammen-
gehen mit anderen Fraktionen einen Abfall von den alten Traditionen. Als ob Oppo-
sition um jeden Preis und in jedem Falle Aufgabe des Katholiken wäre, als ob er nicht
mitwirken dürfte, ja müßte, wenn es gilt, ohne Verletzung seiner religiösen Uberzeugung
eine dem Reiche förderliche Maßnahme zu treffen, auch wenn diese nur mit schweren
Opfern durchzusetzen ist! Die Berufung auf Windthorst war um so törichter, als dieser
selbst unter den veränderten Verhältnissen von seiner alten Politik abgegangen war.
— Aber die Rückständigkeit machte sich nicht nur auf der einen Seite geltend. An der
Schwelle des Jahres 1899 mußte der Spektator es als „sehr bedauerlich und befremd--
lich“ beklagen, „daß gerade in dem Augenblicke, wo die Katholiken sich anschicken, an
der nationalen Arbeit stärkeren und aufrichtigen Anteil zu nehmen, innerhalb des prote-
stantischen Heerlagers eine gesteigerte Gereiztheit und gehäufte Anklagen gegen den
„Papismus sich einstellen“. Auch wir können mit unserer Uberzeugung nicht zurück-
halten: oftmals wäre die Kritik an unserem Kaiser nicht so herb gewesen, wenn er weniger
der Gerechtigkeit und des Wohlwollens auch gegen die Minorität sich beflissen hätte.
Wer „eine protestantische Politik als höchste Aufgabe deutscher Staatsleitung“ noch am
Ende des neunzehnten Fahrhunderts fordern konnte, der wird natürlich immer scheel
dazu sehen, wenn die Regierung nicht einfach ein Drittel der Bevölkerung zur Oppo-
sition zu verdammen sich entschließt, und wer noch im zwanzigsten Jahrhundert Preußen
einen „evangelischen Staat“ nennt, an der Spitze des Reiches ein „evangelisches Kaiser-
tum“" sieht, nachdem jener Staat seit mehr denn anderthalb Jahrhunderten paritätisch
ist und unsere Reichsverfassung ein deutsches, kein konfessionelles Kaisertum kennt —
mag auch der Kaiser evangelisch sein —, der wird über die vom Recht und den realen
Verhältnissen geforderte Politik Wilhelms II. mißvergnügt sein, er zeigt aber auch,
Verstimmung der Kurzsichtigen.
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