VIII. Buch. Die katholische Kirche. 71
stens bei den einheimischen katholischen Gegnern der interkonfessionellen Gewerk-
schaften. Von der Voraussetzung ausgehend, daß protestantische Arbeiter sozialistischen
Einflüssen zugänglicher seien, als katholische, die sich leichter vom Klerus dirigieren lassen,
möchte man verhüten, daß letztere von ersteren mit sozialdemokratischen Zdeen angesteckt
werden. Die Befürchtung, daß Organisationen, die sich christlich nennen, tatsächlich bis-
weilen wenig von sozialistischen verschieden, ja geradezu Entwicklungsstufen zu solchen
sind, ist an sich keineswegs von vornhinein als grundlos abzuweisen. Vestigia terrent.
Vertrat ja der in Rom gebildete Lütticher Professor Abbé Pottier rückhaltslos die Lehren
der christlichen Sozialdemokratie und verstieg sich sogar zu der Behauptung: es sei heut-
zutage eine zweifellose Häresie, zu leugnen, daß die Zukunft der katholischen Kirche in
ihrem Bunde mit der Sozialdemokratie beruhe! Und dem Grafen de Mun erklärte der
sozialistische Abgeordnette Guesde in der französischen Kammer: „Die Agitation der
katholischen Vereine fürchten wir nicht; Sie (die christlichen Demokraten) besorgen den
ersten Unterricht im Sozialismus. Sie sind tatsächlich gegen Ihren Willen Rekrutierungs-
agenten für diesen. Sie sind die enfants perdus des Sozialismus, indem Sie einen
Teil der arbeitenden Klasse aufwecken, an den wir uns nicht wenden können. Alles was
man gegen uns tut, selbst in der Form einer Gegengründung gegen den Sozialismus,
unter dem Vorwande eines christlichen Sozialismus, schlägt zum Vorteil der großen
sozialistischen Zdee aus.“ Das Organ der französischen Ropalisten war derselben Meinung,
wenn es schrieb: „Oer christliche Sozialismus hat zugunsten des revolutionären Sozialis-
mus in Frankreich mehr getan, als alle Anstrengungen der Kollektivisten zusammen ver-
mochten." die Civiltä cattolica, die römische Zesuitenzeitschrift, wenn sie am 16. Mai 1896
schrieb: sie habe längst als notwendig und unausbleiblich erkannt, daß der Radikalismus
und der Katholizismus auf einem Punkte zusammentreffen und sich alliieren müßten; diese
beiden Systeme seien die einzigen logischen Sonnen. Solche Außerungen lassen die
erwähnten Befürchtungen verstehen; sie zeigen aber zugleich, daß es keineswegs inter-
konfessioneller Allianzen bedarf, um christliche Organisationen zum Sozialismus hin-
überzuführen, sondern daß rein „katholische“ schon vorher auf dem besten Wege dazu
waren. Wer daran zweifelte, den dürfte man nur an gewisse übelberufene Wahlbünd-
nisse zwischen Katholiken und Sozialdemokraten und an die bitteren Erfahrungen er-
innern, welche die beiden verstorbenen Erzbischöfe von München und von Bamberg
machen mußten, weil sie vor jenen Bündnissen zu warnen gewagt hatten. Wenn deutsche
Kirchenfürsten den Papst veranlaßten, Mahnungen und Warnungen in Sachen der
Gewerkschaften ergehen zu lassen, so hatten sie zweifellos dazu ihre Gründe. Daß aber die
Scheidung nach Konfessionen die Panazee gegen die gefürchteten Schäden sei, werden
sie bei ihrem anerkannten tiefen Verständnisse für die Lage kaum glauben, und
ist nach den gegebenen Andeutungen jedenfalls nicht über allen Zweifel erhaben.
Es dürften auch hier wie in so vielen anderen Fragen die realen Verhältnisse sich
stärker erweisen, als die schönsten Theorien. Die harte Notwendigkeit des Lebens
wird zu Organisationen behufs VBerteidigung von Standesinteressen führen. In
großen Betrieben, die Hunderte und Tausende von Arbeitern brauchen, wird man
nicht die Frage nach dem religiösen Glauben stellen können. Solange aber katholische
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