76 Die katholische Kirche. VIII. Buch.
Lehranstalten, bei den Katholiken nur 32, und das Oefizit der letzteren sei in einer lang-
samen, aber stetigen Steigerung begriffen. Gehe das so weiter, so sei Gefahr, „daß mit
der Zeit die Bevölkerung auch in überwiegend katholischen Ländern in zwei Klassen
auseinanderfalle, in die herrschende Klasse der gebilbdeten Protestanten und in die be-
berrschte der katholischen Bauern und Handwerker“. Die Förderung der Wissenschaft
sei daher in der Gegenwart die wichtigste Aufgabe des katholischen Deutschlands, man
müsse die Wertschätzung der Wissenschaft und des wissenschaftlichen Berufes in weiten
katholischen Kreisen zu steigern suchen.
Shre Ursachen. Auf die Frage nach den Ursachen jenes Zurückbleibens wies
derselbe Gelehrte auf die Säkularisation hin, durch die der
katholische Volksteil nicht nur zahlreicher hoher und niederer Bildungsstätten,
sondern auch reicher materieller Mittel beraubt worden sei. Diese Begründung
mag nicht erschöpfend sein, sie mag der Ergänzung bedürfen, den souveränen
Spott von F. X. Kraus verdiente sie nicht; denn daß eine solche Katastrophe auf
Menschenalter hinein die Geschädigten ins Hintertreffen drängen mußte, leuchtet ein.
Freilich waren auch in den letzten Zeiten des alten Reiches die katholischen
Bildungsanstalten gewiß nicht in Blüte gestanden; die Folgen des Jahrhunderte bin-
durch geübten jesuitischen Absperrungsspstems wirkten noch nach. Allein das Studien--
wesen auf katholischer Seite hätte zumal seit der Romantik in der allgemeinen geistigen
Neubelebung ganz anderen Aufschwung nehmen können, wenn die reichen Mittel früherer
Zeiten noch zur Verfügung gewesen wären. So gewichtig indes jener historische Grund
auch ist, so muß neben ihm die prinzipielle Erklärung, welche H. Schell in seiner berühmten
(ersten) Broschüre „Der Katholizismus als Prinzip des Fortschritts“ (1897) für die frag-
liche Erscheinung gegeben hat, herangezogen werden. Die so wohlgemeinte Schrift
hat dem begeisterten Apologeten heftige Angriffe und Denunziationen zugezogen, welche
en seinem Lebensmarke zehrten und sicher seinen frühen Tod mitverursachten; sie wurde
auch in Rom mit anderen Werken Schells auf den Indez der verbotenen Bücher ge-
setzt, womit aber natürlich die kirchliche Autorität über den Versuch, jene geschichts-
philosophische Frage zu lösen, sich nicht ausgesprochen hat. Schell wies darauf hin,
daß der Protestantismus der geistigen Selbständigkeit des Individuums einen größeren
Spielraum lasse, während die Geistestätigkeit der Katholiken jedenfalls seit Beginn
der antiprotestantischen Entwickelung der Theologie und des Kultus unter Führung des
Gesuitenordens durch einen überspannten Autoritätsbegriff über Gebühr gebunden wor-
den sei. Das kann kein Vernünftiger, wenn er ehrlich sein will, leugnen, daß unter einem
System beständiger Verdächtigung, wie es von einer herrschenden Schule gegen andere
geübt wird, keine Blüte der Wissenschaft aufkommen kann. Der Beispiele hierfür sind
es so zahlreiche und so bekannte, daß von deren Anführung abgesehen werden darf.
Theologische Fakultäten. Um so höher ist angesichts der geschilberten Schwierig-
Sbre schwere Stellung. keiten die wissenschaftliche Leistung zu werten, welche
von den an deutschen Hochschulen durch die Staats-
1044