Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Dritter Band. (3)

  
16 Eisenbahnen, Straßen- und Luftverkehr, Post und Telegraph. VII. Buch. 
  
Heute wird Deutschland an Billigkeit seines Tarifes für die unterste Klasse des Per- 
sonenzugs von keinem Lande Europas übertroffen. 
Was die Tarifreform des Jahres 1877 auf dem Gebiete des Güterverkehrs war, 
das war die Reform von 1907 für den Personenverkehr. Sie hat die deutsche Zersplitte- 
rung auf diesem Gebiete im wesentlichen beseitigt. Sie hat den Reiseverkehr von einer 
lästigen Fessel befreit, indem sie die veraltete Prämie für die Rückkehr nach dem Ausgangs- 
punkte der Fahrt beseitigte. 
Freilich die Einfachheit des neuen Tarifs ist durch den Hinzutritt der Fahrkarten- 
steuer stark beeinträchtigt worden. Man denke nur an die Zuschlagsberechnung beim 
Übergang in eine höhere Wagenklasse. Die Tarifreform hat es unterlassen, mit einem küh- 
nen Schritt zum Dreiklassensoystem zurückzukehren, wie es 1891 der Maybachsche 
Entwurf beabsichtigt hatte. Sie hat darum dem deutschen Volke die volle Einheit im 
Personenverkehr nicht gebracht. Sie war ein Kompromiß und bei allen ihren Vorzügen 
keine bahnbrechende Neuerung im Eisenbahnverkehr. Eine vierte Klasse kennt heute 
außer Deutschland kein anderes Land der Erde. In England führen die meisten Bahnen 
nur zwei Klassen, in den Vereinigten Staaten von Nordamerika nur eine einzige, wenn man 
von dem Zuschlag für die Benutzung der Pullmanwagen absieht. Has Oreilklassensostem 
hätte eine große Vereinfachung des Tarifbildes und eine beträchtliche Kostenminderung 
der Personenbeförderung ermöglicht. Die Abschaffung der vierten Klasse würde einen 
Beitrag zum Ausgleich der sozialen Gegensätze geliefert haben, auf deren Verschärfung 
in unserer Zeit hoch aufstrebender industrieller Entwicklung so viele Umstände einwirken, 
trotz der groß angelegten Sozialpolitik des deutschen Reiches und trotz der sichtlich fort- 
schreitenden Besserung in der Lebenshaltung der unteren Schichten unseres Volkes. 
Die Entwicklung des Personen- 
verkehrs in Deutschland während 
der letzten 25 Jahre war glänzend. Die Ourchschnittseinnahme aller deutschen Bahnen 
(ausschließlich der Kleinbahnen) für das Personenkilometer ist von 3,29 Pfennig auf 
2,55 Pfennig, also um mehr als ½ gesunken, die Einnahmen aus dem Personenverkehr 
sind um mehr als das Oreifache gestiegen. Der Deutsche gibt heute auf den Kopf der 
Bevölkerung 2½-mal soviel an Fahrgeld aus als vor 25 Zahren und legt durchschnittlich 
jährlich über 600 km auf den Eisenbahnen zurück. Sein Jahresbudget an Eisenbahn- 
fahrgeldern erreicht dabei freilich noch nicht dasjenige eines Einwohners Groß- 
britanniens, der Vereinigten Staaten und Belgiens, übertrifft aber jenes aller übrigen 
Länder der Erde. 
5. Entwicklung des Personenverkehrs. 
  
Her Güterverkehr. Die bei der Gütertarifreform des Jahres 1877 ein- 
gesetzte ständige Tarifkommission und der ihr beige- 
gebene, aus Vertretern der Landwirtschaft, des Handels 
und des Gewerbestandes gebildete Ausschuß der Verkehreinteressenten, dann die Eisen- 
bahnbeiräte der deutschen Bahnen, bieten die Gewähr, daß die Entwicklung des 
deutschen Tarifwesens sich den Bedürfnissen des Wirtschaftslebens anpaßt. Wie im 
  
1. Tarifermäßigungen. 
  
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