Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Dritter Band. (3)

  
IX. Buch. Das höhere Schulwesen. 35 
  
der Sinn auch der Lehrpläne von 1882. Zwar widmeten sie den realistischen Anstalten, 
dem Realgymnasium und der Oberrealschule wie sie fortan genannt wurden, erhöhte 
Fürsorge; aber die Blüte beider wurde dadurch hintangehalten, daß für den Eintritt 
in fast alle höheren Berufe nach wie vor die Beibringung des Reifezeugnisses von einem 
Gymnasium unerläßlich sein sollte. Diesen Anspruch hofften die Freunde der „klassischen 
Bildung“ dadurch aufrecht erhalten zu können, daß innerhalb des gymnasialen Lehrplanes 
die alten Sprachen weiter zugunften der realistischen Fächer eingeschränkt waren. Aber 
das bedeutete einen BVerlust an innerer Einheit und Kraft, während andrerseits den bei- 
den Schwesteranstalten das äußere Wachstum gehemmt blieb. Mehr als die Bedenken 
der Regierung waren daran die Vorurteile der Gesellschaft schuld, die namentlich der 
Oberrealschule auch da — bei den preußischen Architekten und Ingenieuren — entgegen- 
standen, wo die Bildung, die sie gewährte, als Berufsvorbereitung besonders geeignet war. 
Von zwei Seiten wurde der Vorschlag gemacht, die Gegensätze in friedlicher Zusammen-- 
fassung zu versöhmen. Die einen empfahlen die „deutsche Einheitsschule“, die in Wahr- 
beit nichts anderes war als das Gymnasium, nur mit fortgesetzter Einschränkung der 
alten Sprachen und entsprechender Verstärkung der modernen Elemente; die andern, 
von dem Abgeordneten v. Schenckendorff geführt, forderten, nach einem älteren Plane 
von Ostendorf (1873) und jetzt nach schwedisch-norwegischem Vorbild, eine „Einheits- 
schule mit Gabelung“, d. h. ein groß angelegtes System, in welchem die verschiedenen 
Formen, die bisher nebeneinander gestanden hatten, als Zweige alle aus demselben 
Stamm hervorwachsen sollten. Da nun der gemeinsame Unterbau, den Bedürfnissen 
der größeren Menge entsprechend, lateinlos gedacht war, so ergab sich für die alten 
Sprachen ein um mehrere JZahre späterer Anfang, als das Gymnasium ihn hatte, und 
damit ein so erheblicher weiterer Verlust an Wirksamkeit, daß sie als grundlegendes Ele- 
ment höherer Schulbildung hätten ausscheiden müssen. 
Alle Parteien stimmten in einem Grundverlangen überein: 
jede begehrte für sich und ihr Zdeal nicht nur freie Be- 
tätigung, sondern Herrschaft; eben daher die Erbitterung des Kampfes. Demgegenüber 
war doch schon damals der Gedanke laut geworden, verschiedene Geistesrichtungen und 
Bildungswege als gleichberechtigt anzuerkennen, so daß von dem feindlichen Gegensatze 
nur die Mannigfaltigkeit frischer, wetteifernder Kräfte zurückbliebe. Aber der Ruf zum 
Wettkampf und zum Frieden verhallte damals, wo nicht ungehört, doch unverstanden. 
Ein Grundirrtum. 
  
Das zeigte sich auf der Konferenz, die im Dezem- 
ber 1890 im Kultusministerium in Berlin zu- 
sammentrat. Kaiser Wilhelm eröffnete die Verhandlungen in eigner Person mit einer 
programmatischen Rede, in der er zu erkennen gab, was er bisher an den höheren 
Schulen vermißt habe und nun von ihnen erwarte: mehr Spielraum und Eifer für 
die Ausbildung körperlicher Kraft und Gewandtheit, bewußtere Pflege einer deutsch- 
nationalen Gesinnung, lebendigere Beziehung alles Lernens und Übens auf die Bedürf- 
nisse und Aufgaben der Gegemwart. Auch dem Verlangen nach einer reinlicheren Schei- 
Dezember-Konferenz 1890. 
  
1083
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.