40 Das höhere Schulwesen. IX. Buch.
III. Auf dem Gebiete des Knabenschulwesens.
war in dem Jahrzehnt, das auf die Reform
von 1891 folgte, ein hervortretender Zug die Abnahme der Realgymnasien, denen
die Dezemberkonferenz nicht günstig gewesen war, wogegen die Realschulen und Ober-
realschulen einen erheblichen Zuwachs zu verzeichnen hatten. In der Bevorzugung
eines lateinlosen Lehrplanes, dessen Stärke Mathematik und Naturwissenschaft ausmachen,
kam unmittelbar zum Ausdruck, wie sehr diese Art von Bildung einem wachsenden Be-
dürfnis entsprach: inmitten einer kraftvoll sich entwickelnden wirtschaftlichen Blüte rich-
teten sich die Gedanken der Menschen mehr und mehr auf praktische Zwecke und Lei-
stungen. Die Anzahl der Gymnasien war immer noch reichlich groß, um ein Gegengewicht
zu bilden, wenn sie nur hoffen durften, daß durch ruhiger gesammelte und vertiefte Ar-
beit im Innern ihre eigentümliche Bestimmung, auf dem Umwege durch das Altertum
junge Deutsche zum Verständnis der Gegenwart zu führen, um so besser erfüllt werden
könnte. Aber freilich, für solches Streben bot der Lehrplan von 1891 mit seiner Beschrän-
kung gerade der Kernfächer keinen Anhalt. Allenthalben ertönte die Klage, daß es mit
dem Können der Schüler abwärts gehe, besonders auch im Deutschen, das zu fördern
doch die Absicht gewesen war. Das Märchen von Menenius Agrippa bestätigte sich aufs
neue: wie dort dem Magen, so hatte man hier dem Lateinunterricht seine Vorzugs-
stellung nicht gegönnt; und nun machte sich der Mangel an kräftigem Blut fühlbar, das
vom Ernährungszentrum aus allen GEliedern zuströmen sollte.
Folgen der Lehrpläne von 1891.
Angesichts dieser Berhältnisse konnte es nicht
wundernehmen, daß der Kampf um die höhere
Schule unvermindert fortgesetzt wurde. Der
Realschulmännerverein unter Steinbarts Führung machte seine alten Forderungen, in
erster Linie zugunsten des Realgymnasiums, geltend. Daneben vertrat ein jüngerer „Verein
für Schulreform“, an dessen Spitze Friedrich Lange und Th. Peters standen, mit Eifer
jenen Plan, als Grundlage sprachlicher Erziehung das Französische nicht nur an den latein-
losen Anstalten zu verwerten, sondern auch an denjenigen, die das Lateinische festhalten
wollten. Der Gedanke, alle verschiedenen Schulen in ein Spstem zusammenzufassen, bot
unverkennbare wirtschaftliche Vorteile. Und für das Realgymnasium konnte die Bedeutung
des Lateinischen recht wohl als eine sekundäre gefaßt werden, zu tieferem Berständnis
der neueren Sprachen beizutragen; das mußte sich auch dann erreichen lassen, wenn die
alte erst später hinzutrat. So war es ein durchaus gesunder Gedanke, der zuerst unter
Direktor Schlee in Altona (seit 1878) verwirklicht wurde, die Lehrpläne der Realschule
und des Realgymnasiums in den drei unteren Klassen einander gleich zu machen. Der
Versuch bewährte sich; und das stärkte, zunächst bei Außenstehenden, den Glauben, daß
es gelingen müsse, auch das Gymnasium mit seinen beiden alten Sprachen in das lateinlos
angelegte Sostem hereinzuziehen. Als Oberbürgermeister Adickes von Altona 1890 nach
Frankfurt a. M. berufen wurde, brachte er den Wunsch mit, nach diesem Plan eine ein-
greifende Neugestaltung des höheren Schulwesens zu unternehmen. Dafür fand er den
geeigneten Helfer in dem Gymnasialdirektor Karl Reinhardt, der die gestellte Aufgabe
Vereinsbestrebungen.
Der „gemeinsame Unterbau“.
1090