IX. Buch. Das höhere Schulwesen. 4
Kegel haben, und versteht auch mit reiferem Sinne die Wissenschaft anzusehen, gus ihr
nicht, was so leicht in den Vordergrund rückt, das fürs Examen Notwendigste, sondern
freier blickend das für die Aufgaben des Berufes Fruchtbare und Erzieherisch-Verwert-
bare herauszufinden. Diese Möglichkeit wünschte man festzuhalten; und das konnte nur
so geschehen, daß bewährten Lehrerinnen jetzt statt jenes besonderen Kursus das Universitäts-
studium eröffnet wurde. Oieses dauerte aber länger; deshalb schien es geboten, an andrer
Stelle die Zeit wieder einzusparen. Ein Ministerialerlaß vom April 1909 regelte die
Dinge in diesem Sinne: eine praktische Tätigkeit von zwei Jahren sollte für die Zulassung
zum Studium und weiter zum vollen Examen pro facultate docendi ausreichen. Ein
wohl gemeinter, doch folgenschwerer Entschluß! Denn zwei statt fünf ist kein bloßer
Gradunterschied: jetzt war das nicht mehr eine Einrichtung, um erprobten Lehrerinnen,
die zum Bewußtsein der eignen Leistungsfähigkeit gelangt wären, eine höhere Ausbil-
bildung nachträglich zu eröffnen; sondern ein junges Mädchen konnte von vornherein
den Plan fassen, erst Lpzeum und Oberlyzeum durchzumachen, dann zwei Zahre lang
mit „vollem Unterricht“ (d. h. mit 12 Stunden wöchentlich) an einer höheren Schule
zu arbeiten und so allmählich und sicher an die Universität heranzukommen. Im Grunde
war das ja der Aufbau, die geradlinige Fortsetzung, die 1906 auf der Konferenz unter-
legen war, nur mit dem Unterschiede, daß damals beabsichtigt gewesen war, die Fort-
setzung auch innerlich auf das Universitätsstudium zu richten, während jetzt Oberlpzeum,
Seminarklasse und zweijährige Berufsarbeit an und für sich einem ganz andern Zwecke
dienten. Aus diesem Unterschied erklärt es sich, daß die neue Einrichtung bei früheren
Anhängern des Aufbaus ebenso ernste Bedenken hervorrief wie bei den Freunden der
Studienanstalten, daß vor allem aus den Kreisen der Universitätslehrer lebhafter Wider-
spruch laut wurde. Der Erfolg wird entscheiden müssen. Dieser „vierte Weg“ — neben
den drei Formen der Studienanstalt — ist einmal da und wird schwerlich wieder abge-
schafft werdemn; ja man darf beinahe erwarten, daß er von den beiden Jahren praktischer
Tätigkeit, die in diesem Zusammenhange keinen rechten Sinn mehr haben, auch noch
entlastet werden wird. Dann muß sich zeigen, ob der Lehrplan des Oberlyzeums so
ausgestaltet werden kann, daß er zwei verschiedenen Aufgaben zugleich gerecht wird, der
Vorbereitung auf den Beruf der Lehrerin und der auf ein akademisches Studium.
Die Studienanstalten. Das Ergebnis der Erfahrungen, die auf dieser Seite ge-
sammelt werden, wird wesentlich mitbestimmend sein
auch für den Bestand und das Wachstum der Studienanstalten. Zurzeit gibt es deren
in Preußen 14, dazu reichlich doppelt so viele, die in Entwicklung begriffen sind. Ver-
einzelt ist dabei, wie schon 1901 in Mannheim, der Lehrplan der Oberrealschule gewählt
worden; an den meisten Orten legte man doch Wert auf das Lateinische. Aur ganz
selten wird Griechisch hinzugenommen, obwohl es mit seiner Literatur dem weiblichen
Interesse besonders viel bieten könnte. Fast alle Studienanstalten sind Realgymnasien,
auch die alten Berliner Kurse sind 1902 zu dieser Form zurückgekehrt: es zeigt sich
auch hier, daß lateinloser Unterbau und gymnasiale Bildung eigentlich nicht zusammen-
stimmen.
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