IX. Buch. Volksschulen. 57
der Zugend in den für das bürgerliche Leben nötigen Kenntnissen und Fertigkeiten jetzt
besser als früher. Leider aber bleibt die andere Frage offen, ob sie auch ihre wichtigere
Aufgabe, die religiöse, sittliche und vaterländische Bildung der Jugend zu pflegen, jetzt
besser löst als zuvor. Die Religiosität ist im BVolke und auch in der Fugend zurückgegangen.
Die Klage über die zunehmende Verrohung der Jugend, die steigende Kriminalität der
Zugendlichen, ist lebendig. Die Entfremdung der Jugend gegenüber den Zdealen der
Königstreue und Vaterlandsliebe ist offenbar. Aber es wäre unrecht, hier der Volksschule
die Schuld zu geben. Weit stärkere Mächte als die Schule wirken auf die Zugend ein. Die
Volksschule bemüht sich, den ihr anvertrauten Kindern eine gesunde Auffassung unserer
staatlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse mitzuteilen und ihr Wollen auf das Gute zu
richten. Sie ist eingedenk der Mahnung, die Kaiser Wilhelm II. in der Order vom 1. Mai
1889, in der er zuerst der Volkeschule nähergetreten ist, an die Schule gerichtet hat, um ihre
Beihilfebei der Bekämpfung sozialistischer und kommunistischer Odeen in Anspruch zunehmen.
Sie hat, der Order folgend, die neue und neueste Zeitgeschichte mehr als bisher in den
Kreis der Unterrichtsgegenstände gezogen und legt bei der geschichtlichen Behandlung
der Vorgänge auf die Gegenwartsbeziehungen erhöhten Wert. Die höheren Anforde-
rungen, die das politische, soziale und wirtschaftliche Leben der Gegenwart an die staats-
bürgerliche Reife unfres Volkes stellt, sowie der in weiten Schichten unseres Volkes leider
noch vorhandene Mangel eines starken und lebendigen Nationalgefühls erfordern eine
stärkere Betonung des staatsbürgerlichen Gedankens in der Erziehung. ODie Volkeschule
kann allerdings bei der staatsbürgerlichen Erziehung nur vorbereitend mitwirken. Sie
versucht es, den Kindern zur Erkenntnis dessen zu verhelfen, was wahr, was nützlich und
was in der Welt möglich ist. Wenn es ihr damit nicht so gelingt, wie gewünscht werden
muß, so wird man darum die Einrichtung ebenso wenig tadeln dürfen, wie man die
Reichsversicherungsordnung tadeln oder gar verwerfen dürfte, weil es trotz des unermeß-
lichen Segens, den sie der Arbeiterwelt gebracht hat, doch nicht gelungen ist, diese von
ihren utopischen Zdeen zurückzubringen. Und trotz dieses gegenwärtigen Mißerfolges
ist die Reichsregierung unermüdlich darauf bedacht gewesen und ist es weiter, die soziale
Gesetzgebung auszubauen. So ist auch die Unterrichtsverwaltung unermüdlich bestrebt,
auch auf dem inneren Unterrichtsgebiete im Geiste der sozialen Gesetzgebung zu wirken.
Zu der Zeit, als Kaiser Wilhelm II. die
Regierung antrat, als man in der gebil-
deten Welt den Bedürfnissen des Arbeiterstandes helfend näher trat, da brach sich die
Erkenntnis Bahn, daß viele Frauen der unteren Stände ihren hauswirtschaftlichen Pflich-
ten nicht gewachsen sind, weil ihnen die nötigen Kenntnisse zu ihrer Erfüllung fehlten,
und daß dieser Mangel Armut und Zerrüttung des Familienlebens zur Folge habe.
Es erschien daher geboten, diesen Frauen zu zeigen, wie sie mit den gegebenen Mitteln
die Nahrung schmackhaft zubereiten, die Wohnung und Kleidung besser instand halten, kurz
dem Manne ein behagliches Familienleben schaffen könnten. Es handelte sich also darum,
den Weg zur hauswirtschaftlichen Ausbildung der Frauen der unteren Stände
zu finden. Man versuchte es zuerst, die schulentlassenen Mädchen zu hauswirtschaftlichen
Hauswirtschaftliche Ausbildung.
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