Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Dritter Band. (3)

  
IX. Buch. Die Fach- und Fortblldungsschulen. 79 
  
und Wirksamkeit zu verleihen. Aber ebenso gewiß ist es, daß die praktische Lehre nur 
noch in Ausnahmefällen dem Lehrling die gründliche und die vielseitige Ausbilbung 
zu geben vermag, deren der Anfänger bedarf, um unter den heutigen Verhältnissen 
des immer schärfer werdenden Wettbewerbs seine Stelle auszufüllen und sein Fort- 
kommen zu finden. So sind, nicht aus Doktrinarismus oder aus bureaukratischem Be- 
vormundungsstreben, sondern durch die Bedürfnisse des gewerblichen Lebens selbst neben 
die gewerbliche Prazis gewerbliche Schulen gestellt worden, die die Auf- 
gabe haben, dem Nachwuchs im Handel und Gewerbe das Wissen und Könmen zu ver- 
mitteln, dessen er neben der praktischen Ausbildung bedarf. Diese Schulen führen von 
alters her die Namen Fach- und Fortbildungeschulen. Ihre Unterscheidung war 
nicht immer klar und ist auch jetzt nicht streng durchgeführt. Zm allgemeinen aber kann 
man sagen, daß die Fortbildungsschulen die Berufsschulen für die Gesamtheit des ge- 
werblichen Nachwuchses sind, während die Fachschulen nur für einzelne Zweige des 
gewerblichen Berufs bestimmt sind, diesen aber ein über die Fortbildungsschule hinaus- 
reichendes Können zu vermitteln haben. 
Entstehung der Fortbildungs- Die Entstehung sowohl der Fortbildungs- 
und Fachschulen. wie der Fachschulen fällt in die Zeit vor 
dem Jahre 1888 und kann daher hier nur 
kurz angedeutet werden. Die ersten Anfänge der Fortbildungsschulen liegen 
in den Sonntageschulen, wie sie in fürstlichen Verordnungen des 18. (z. B. den 
Schulreglements Friedrichs des Großen von 1763 und 1765) und des beginnenden 
19. Lahrhunderts vorgeschrieben wurden, um bei den Landeskindern das in der Volks- 
schule erworbene Wissen zu erhalten und zu ergänzen. Diese Sonntageschulen, die 
noch jetzt in Bayern bestehen, sind nicht Berufsschulen in unserem Sinne, sind aber 
oft ihre Vorläufer gewesen. Die Entstehung eigentlicher gewerblicher Fortbildungs- 
schulen geht zurück auf die im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts errichteten Hand- 
werker-Zeichenschulen und erhielt alsbann einen überaus wirksamen Anstoß dadurch, 
daß die Gewerbeordnung von 1869 die Fortbildungsschulpflicht in die Regelung des 
gewerblichen A#rbeitsverhältnisses einbezog. In der Folgezeit baute die Gesetzgebung 
die dürftige Vorschrift vom Jahre 1869 Schritt für Schritt aus, so daß sie zur 
Grundlage umfassender, in dieser Art bisher nicht gekannter Schulorganisationen 
werden konnte. 
Auch die Entstehung der Fachschulen reicht bis ins 18. Jahrhundert zurück; 
denn die damals von fürstlicher Freigebigkeit gegründeten Akademien sollten nicht 
nur der hohen Kunst dienen, sondern auch kunstverständige Handwerker erziehen und 
fördern. Aber die damals gepflanzten Keime gingen bis auf wenige Reste unter in 
der Not der napoleonischen Jahre, und das 19. Jahrhundert mußte mit der Er- 
richtung von Fachschulen im wesentlichen von vorn anfangen. Die Anregungen zu 
den Reugründungen kamen zum Teil vom Staat (Gewerbe-Akademie in Berlin und 
Provinzial-Gewerbeschulen), zum Teil von der Industrie (Textilschulen). Von großem 
Einfluß war die durch die ersten Londoner Weltausstellungen (1851) verbreitete Er- 
  
  
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