Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Dritter Band. (3)

  
IX. Buch. Die Fach- und Fortbildungeschulen. 83 
  
schulpflicht für die gewerblichen Arbeiter beiderlei Geschlechts unter 18 Jahren einzu- 
führen und diejenigen Anordnungen zu treffen, die zur Sicherung eines regelmäßigen 
Schulbesuchs erforderlich sind und dazu dienen, die Ordnung in der Fortbildungsschule 
und ein gebührliches Verhalten der Schüler zu sichern. Die Fortbildungsschulpflicht 
erstreckt sich, wenn sie in dieser Weise eingeführt ist, auch auf die Zeit der Arbeitslosig= 
keit. Die Gesetzgebung einzelner Bundesstaaten hat die von der Reichs-Gewerbeordnung 
getroffene Anordnung in glücklicher Weise dadurch ergänzt, daß sie an die Stelle der 
vom Ermessen der Gemeinden und weiteren Kommunalverbände abhängigen statu- 
tarischen Schulpflicht eine gesetzliche Fortbildungeschulpflicht der jugendlichen ge- 
werblichen A#rbeiter eingeführt und gleichzeitig den Gemeinden die Verpflichtung zur 
Errichtung gewerblicher und kaufmännischer Fortbildungsschulen auferlegt hat; so ins- 
besondere Württemberg, das durch Gesetz vom 22. Juli 1906 diese Anordnung für alle 
Gemeinden getroffen hat, in denen dauernd mindestens 40 schulpflichtige gewerbliche 
Arbeiter vorhanden sind. In Preußen, wo zwar die Bestimmungen der Gewerbe- 
ordnung in die Movelle zum allgemeinen Berggesetz vom 24. Zuni 1892 (§5 87) über- 
nommen sind, war ein ähnliches gesetzgeberisches Borgehen wie in Württemberg ge- 
plant, ist aber nicht zum Ziel gekommen. Der Entwurf eines Pflichtfortbildungeschul- 
gesetzes, den die Staatsregierung im Frühjahr 1911 vorlegte und der die Errichtung 
von Fortbildungsschulen in allen Gemeinden mit mehr als 10 000 Einwohnern vorsah, 
ist nicht über die Beratung in der Kommission des Abgeordnetenhauses Hhinausgelangt 
und nach Schluß der Landtagesession nicht wieder vorgelegt worden. 
Erzieherische Aufgaben. Die Ausgestaltung der Fortbildungeschule zu einer 
» gewerblichen und kaufmännischen Berufsschule hat 
wesentlich dazu beigetragen, die Gegnerschaft der Gewerbetreibenden gegen die 
Fortbildungsschule, die von ihnen wegen der Nötigung, den jugendlichen Arbeitern 
die Zeit zum Schulbesuch freizugeben, als lästige Einrichtung empfunden wurde, zu 
beseitigen oder doch zu mildern. Trotzdem hat es nicht an Stimmen gefehlt, die diese 
Entwicklung als einen Irrweg verwerfen. Kein Geringerer als der Generalfeldmarschall 
Graf von Haeseler hat im Herrenhause (am 21. Mai 1912) Klage darüber geführt, daß 
die städtischen Fortbildungsschulen lediglich zu Fachschulen geworden seien. Darin liegt 
der Vorwurf, daß die Schule über ihren unterrichtlichen ihre erzieherischen Aufgaben 
vergessen habe. Begründet ist dieser BVorwurf nicht. Mögen einzelne Schulmänner 
bei der Entwicklung des fachlichen Charakters des Unterrichts in einer Art Entdeckerfreude 
zu weit gegangen sein, im allgemeinen kann die Fortbildungsschule für sich in Anspruch 
nehmen, daß sie sich ihrer erzieherischen Pflicht immer bewußt geblieben ist. Es ist 
kein Wort darüber zu verlieren, daß die jungen Menschen, die mit 14 Zahren die Volks- 
schule verlassen und ins Leben treten, keine reifen Charaktere sind, sondern noch der 
Leitung und Erziehung bedürfen; nur möge man nicht glauben, daß ein allgemeiner, 
in den Bahnen der Volkeschule sich bewegender Unterricht die Jugend fesseln und einer 
sittlichen Beeinflussung den Weg ebnen würde. Der junge Mensch, der als Arbeiter 
oder Lehrling in das gewerbliche Leben eingetreten ist, bewertet den Unterricht, zu 
  
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