Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Dritter Band. (3)

  
IX. Buch. Die Fach- und Fortbildungsschulen. 85 
  
dadurch zu denkendem, pflichtbewußtem Arbeiten zu erziehen. In den Oienst der Fach- 
kunde tritt auch der Zeichenunterricht, der den Schüler zum Verständnis von Werk- 
zeichnungen und zur eigenen Anfertigung einfacher technischer Zeichnungen aus seinem 
Beruf zu führen hat. Auch der Rechenunterricht dient der beruflichen Ausbildung. 
Die Ubung der bloßen Fertigkeit tritt ganz zurück. Die Schüler sollen lernen, die für 
das bürgerliche und berufliche Leben notwendigen Aufgaben aufzusuchen und zu lösen. 
Dazu gehört, daß die Schüler mit Münzen, Maßen und Gewichten genau vertraut 
werden, daß auch die Flächen- und Körperberechnung geübt wird, soweit sie für das 
Gewerbe in Betracht kommt, und daß allen Ubungen Aufgaben und Verhältnisse zu- 
grund gelegt werden, die der Prazis des gewerblichen Lebens entsprechen. Ergänzend 
treten Unterweisungen in der gewerblichen und der Haushaltungsbuchführung hinzu. 
Oer beruflichen Ausbildung dient auch der Unterricht in der Geschäftskunde. Die Schüler 
werden angeleitet, die im geschäftlichen Leben an sie herantretenden schriftlichen Arbeiten 
sachgemäß zu erledigen, die üblichen Formulare mit Verständnis auszufüllen, der Ver- 
kehr mit Post und Eisenbahn, die Einrichtungen und Hilfsmittel des Geldverkehrs werden 
erläutert. Das Maß, in dem alle diese Gebiete in den Lehrplänen der einzelnen Schulen 
berücksichtigt sind, ist sehr verschieden, da natürlich an Ueinen Schulen, in deren Klassen 
mehrere Berufe vereinigt sind, die eigentliche Fachkunde in geringerem Umfange berück- 
sichtigt werden kann als in Einberufsklassen. 
Aber die Schüler sind nicht bloß angehende Gewerbetreibende, sie sind auch wer- 
dende Staatsbürger. Sie werden nach wenigen Jahren berufen sein, als Wähler, als 
Beisitzer in Schiedsgerichten und Gewerbegerichten, als Mitglieder von Kassenvorständen 
und an anderen Stellen in den öffentlichen Dingen entscheidend mitzuwirken, und sie 
werden an der politischen Entwickelung unseres Landes das Maß von Verantwortung. 
mitzutragen haben, das jedem Staatsbürger zufällt. Für diesen ihren staatsbürgerlichen 
Beruf hat die Fortbildungsschule die Fugend ebenso vorzubereiten wie für den gewerb- 
lichen. Als weiteres Lehrfach kommt daher hinzu die Bürgerkunde. Sie hat die Auf- 
gabe, den Zusammenhang des einzelnen und seiner Berufsarbeit mit dem gemein- 
schaftlichen Leben in Familie, Schule und Werkstatt, in Gemeinde, Staat 
und Reich zum Bewußtsein zu bringen, das Werden und Wesen wichtiger Einrichtungen 
des öffentlichen Lebens zu erklären, die Ehrfurcht vor der Verfassung und Rechtsordnung, 
die Liebe zu Heimat, Baterland und Herrscher zu pflegen und Ziele für freudige Mit- 
arbeit im Staate vor Augen zu stellen. 
Oie hier angeführten Stoffgebiete sind bei den gewerblichen Fortbildungsschulen 
der verschiedenen Bundesstaaten verschieden zusammengefaßt. Die preußischen Be- 
stimmungen von 1911 unterscheiden die drei Lehrfächer Berufs- und Bürgerkunde, 
Rechnen und Buchführung und Zeichnen. Bei den süddeutschen Schulen ist die Gliede- 
rung vielfach eine weitergehende. Bei den größeren badischen Fortbildungsschulen (Ge- 
werbeschulen) kommt als besonderes Fach die praktische Arbeit in eigenen Schulwerk- 
stätten hinzu mit dem Ziele, einzelne Techniken zu üben, die der Lehrling in der Meister- 
lehre in der Regel nicht erlernt. In besonders bemerkenswerter Ausgestaltung findet 
sich der praktische Unterricht in den von dem Stadtschulrat Georg Kerschensteiner organi- 
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