X. Buch. Philosophie. « 19
zuverlässigen Weg zu diesem Absoluten nur in der Form gibt, in der die einzelnen Real-
wissenschaften ihn sich gebahnt und mit entschiedenem Erfolg beschritten haben, und
daß auch die Metaphysik an diese Marschroute gebunden ist, wenn sie nicht in wilde
Spekulation und phantastische Willkür ausarten soll. Freilich fällt ihr die eigentümliche
Aufgabe zu, eine Totalität des an sich Seienden und Geschehenden mit Hilfe der von
den einzelnen Realwissenschaften gewonnenen Erkenntnisse in einer Universalwissen-
schaft darzustellen, und das ist keine äußerliche Zusammenfassung, sondern verlangt
eine Würdigung und Synthese aller besonderen Realitätsbestimmungen. Oie Anein-
anderlegung einzelner Zipfel ergibt noch keine Kleidung, die bloße Anhäufung einzelner
bunter Steinchen noch kein Mosaikbild. Aber ohne spstematische Verwertung der Beiträge
von seiten der Realwissenschaften käme, wie das besonders von unserem großen Systema-
tiker Wundt gezeigt worden ist, jedenfalls keine wissenschaftliche Metaphysik zustande.
Auf die speziellen Richtungen, die in der Gegenwart das absolut Reale zu fassen
suchen, kann bier nicht näher eingegangen werden. Im allgemeinen ist eine ausgesprochen
spiritualistische Tendenz erkennbar. Zhr huldigen die Monisten, welche die körperliche
Welt als die Erscheinungsweise der geistigen, allein realen betrachten, ebenso wie die
Erneuerer eines Leibniz-Herbartschen Pluralismus, auch wenn sie mit Wundt den vor-
stellenden Einzelwesen wollende substituieren, und Eucken, der unermühliche Verfechter
einer selbständigen Einheit des Geisteslebens, die sich geschichtlich bewährt und deren
Entwickelung an den Kulturmächten offenbar wird. Daß es bei dieser exklusiven Bevor-
zugung der geistigen Realität bleiben wird, ist schwerlich anzunehmen. Eine dualistische
Metaphysik, zu der ein so geistvoller und scharfsinniger Philosoph wie C. Stumpf
binneigt, dürfte dem heutigen Stande der realwissenschaftlichen Einsicht immer noch
am besten entsprechen und an den vorurteilsvollen Einwänden, die man gegen sie zu
richten pflegt, gewiß nicht zu scheitern brauchen. Erst eine vollausgebildete Theorie
der Realisierung wird darüber urteilen lassen, welche Möglichkeiten wissenschaftlich offen
stehen und welche Kriterien für die Setzung und Bestimmung realer Objekte anzuwenden
sind. Auf alle Fälle haben wir es auch hier mit absoluter, d. h. einer auf Absolutes ge-
richteten Philosophie zu tun.
Ausblick. Wir sind mit dem Jahre 1913 in die Säkularfeier jener herrlichen Zeit
— der Befreiungskriege eingetreten, die uns durch ihr erhabenes Beispiel
zeigt, daß ideale Gesinnung eine sehr reale Macht werden und alle Widerstände wie ein
entfesselter Bergstrom brechen und vor sich hertreiben kann. Wir sollten aber nicht vergessen,
daß die absolute Philosophie eines Fichte, Schelling und Hegel die Philosophie dieses Zeit-
alters war. Fichte, der die Reden an die deutsche Nation gehalten hatte und das preußische
Heer als weltlicher Prediger begleiten wollte, vertraute der edlen Form der klaren Ein-
sicht als einem Prinzip alles Fortschritts. Schelling, der von einer herrschenden Reli-
gion oder Philosophie die Herstellung des alten Nationalcharakters der Deutschen er-
wartete, sah in der Staatsverfassung ein Bild der Verfassung des Zdeenreiches. Und
Hegel überzeugte sich täglich mehr, wie er schreibt, daß die theoretische Arbeit mehr
zustande bringe in der Welt, als die praktische. Ist erst das Reich der Vorstellung revo-
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