22 Geschichtschreibung und Geschichtsforschung. X. Buch.
indessen nicht. Es waren zunächst die Kämpfe des Tages, die sie mit Notwendigkeit
auf die politische Geschichtschreibung führten. Es war aber auch ein ganz natürlicher
Gang der wissenschaftlichen Arbeit, daß zunächst der große Rahmen, innerhalb dessen
sich die geschichtliche Entwicklung vollzieht, erforscht wurde. Wie wenig sich jene Historiker
der Behandlung kulturgeschichtlicher Probleme an sich verschlossen, zeigt das Beispiel
H. v. Spbels, eines der namhaftesten Vertreter der politischen Geschichtschreibung. Wir
verdanken ihm tiefdringende und erfolgreiche Arbeiten von kulturgeschichtlichem Znhalt.
Er hatte die Absicht, kulturgeschichtlichen Problemen in noch größerem Rahmen nachzu-
gehen. Es waren dann lediglich Fragen aus dem harten politischen Kampf des Tages
und die Erkenntnis, daß eine Begrenzung im Stoff die Voraussetzung für die Bewäl-
tigung großer Themata ist, was ihn fortan wesentlich auf die politische Geschichte beschränkt
hat. Im übrigen genügt eine Erinnerung an die monumentale deutsche Verfassungs-
geschichte von Waitz und die gedankenreichen kulturgeschichtlichen Arbeiten von W. Arnold,
um den Vorwurf zu entkräften, daß jene Jahrzehnte für die Schilderung des Zuständ-
lichen keinen Sinn gehabt hätten.
Oie Geschichtschreiber dieser Zeit nehmen politisch nicht
eine gleiche Haltung ein. Historiker von romantischem Ur-
sprung kämpfen gegen romantische Auffassung in Staat und Kirche, während andere
an ihren romantischen Zdealen festhalten. Mit diesem Gegensatz deckt sich großenteils,
jedoch nicht durchweg der zwischen klein- und großdeutschen Historikern. In den inneren
konstitutionellen Kämpfen der deutschen Staaten ferner betonte der eine Historiker mehr
das Recht der Monarchie, der andere das des Landtags. Immerhin glaubte H. v. Sybel
in einer akademischen Rede vom Zahre 1856 eine Verwandtschaft unter den deutschen
Historikern gerade in politischer Hinsicht, allerdings unter Ausscheidung extremer Ver-
treter auf der rechten wie der linken Seite, beobachten zu können. Als das TCharakteri-
stische nannte er die „veränderte Stellung zum Staat: größere Klarheit und intensivere
Kraft des nationalen Gefühls, praktische Mäßigung und eingehende Sicherheit des poli-
tischen Urteils, positive Wärme und freier Blick in der sittlichen Auffassung. Die dok-
trinäre Phrase und die politische Kannegießerei mancher altliberaler Historiker sind
verschwunden.“
Dem Urteil Sybels fehlt nicht die Berechtigung. Zene übereinstimmende politische
Auffassung der deutschen Historiker hervorgebracht zu haben, daran hat neben den Er-
fahrungen der damaligen deutschen Kämpfe vor allem Ranke gearbeitet. Schon allein
einer der Gedanken, die er in seinen Werken immer von neuem zu betonen sich genötigt
sah, die Beobachtung von der Wechselwirkung der inneren und der äußeren Verhält-
nisse des Staates, die Wahrheit, daß seine innere Struktur und Verfassung abhängt
von seiner politischen Weltlage und den Aufgaben und Ezistenzbedingungen, die sich
daraus ergeben, mußte in jener Richtung wirken.
Seitdem Spbel jene Worte gesprochen, veränderte sich der Charakter der deutschen
Geschichtswissenschaft längere Zeit nicht. Vom Ende der fünfziger Jahre bis 1878 be-
merkt man, trotz mancher sehr erfreulicher Leistungen, etwas von Stillstand. Eine ge-
Stellung zum Staat.
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