Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Dritter Band. (3)

  
X. Buch. Geschichtschreibung und Geschichtsforschung. 23 
wisse Wandlung läßt sich insofern verzeichnen, als nach Abschluß der Berfassungs- 
kämpfe die Aufmerksamkeit sich auch der Verwaltungsgeschichte zuwandte. Es wuchs, 
wiederum als Folge praktischer Erfahrung und historischer Forschung, die Einsicht, daß 
ein Staat auch bei mangelhafter Verfassung durch gute Verwaltung Treffliches zu leisten 
vermag. Ooch war die Wandlung der Situation noch nicht erheblich. 
Neue Entwicklung seit 1878. Ein neuer Abschnitt in der Entwicklung der deut- 
schen Historiographie läßt sich dagegen von den 
Jahren 1878 und 1879 datieren. Diese neue Zeit hat ihr Kennzeichen zunächst in einem 
vorher nicht gekannten Ausbau der Kulturgeschichte, besonders der Wirtschaftsgeschichte. 
Der Wendepunkt in der Entwicklung der Historiographie fällt zusammen mit einem 
Wendepunkt in der inneren politischen Geschichte Deutschlands. 
Damals nahm die zweite Glanzzeit der Bismarckschen Politik ihren Anfang. „Unter 
Nückkehr zu den autoritären Grundlagen des Staates wurden“ — so äußert sich ein neuerer 
Historiker — „die konservativen Kräfte in Wirtschaft und Gesellschaft bewußt 
und erfolgreich in die Höhe gehoben.“ Der Kampf galt vor allem dem manchester- 
lichen Liberalismus, dessen Abbruch sich jetzt vollzog; ihm im umfassendsten Sinn. 
Oessen Zdeale waren Handelsfreiheit, Gewerbefreiheit, Wucherfreiheitzin einigen Gruppen 
des Liberalismus oder der Demokratie steigerte man den Individualismus bis zu inter- 
nationalen Tendenzen. Demgegenüber betonte man jetzt, daß es notwendig sei, der Be- 
wegungsfreiheit des Individuums im Interesse der Allgemeinheit Schranken zu ziehen. 
Man forderte Ausdehnung der Staatstätigkeit, Stärkung der Staatsgewalt, nationalen 
Zusammenschluß. Die nationale Zdee wurde energischer und tiefer erfaßt. Diese Ge- 
danken und Bestrebungen, wie sie zuerst in den Jahren 1878 und 1879 hervortraten, 
haben in den folgenden Jahrzehnten eine weitere Entfaltung erfahren, sind unter 
der Regierung unseres Kaisers im einzelnen praktisch verwirklicht und fortgebildet 
worden. 
Im Kreise der deutschen Historiker fand das neue System bereitwilliges Verständ-- 
nis. Die deutsche Geschichtsforschung hatte ihm geradezu vorgearbeitet. Die angeführten 
Worte Sobels deuten ja in wichtigen Punkten auf das hin, was jetzt Programm wurde. 
Wenn Bismarck für seine neue Politik nicht bei allen Historikern Anklang fand, so hat doch 
von den verschiedenen Disziplinen die Geschichtswissenschaft ihm wohl die meisten Anhänger 
gestellt. C. W. Nitzsch, der im Zahre 1880 starb, hatte noch die Wendung zu einer 
konservativeren Politik als die Morgenröte einer besseren Zeit begrüßt. Manche Histo- 
riker, wie H. v. Treitschke, verließen jetzt die liberale Parteiorganisation, die sich zu 
den neuen Gedanken nicht bekennen wollte. Andere blieben in ihr, haben dann aber 
zur inneren Umformung ihrer Partei beigetragen. Ranke äußerte sich in einer Ansprache 
an seinem 90. Geburtstag (21. Dezember 1885): „In den Ereignissen, die wir erlebt 
haben, läßt sich vor allem eine Niederlage der revolutionären Kräfte erkennen, welche 
die regelmäßige Fortentwicklung der Weltgeschichte unmöglich machen. Hätten diese 
den Platz behauptet, so würde von einer Fortbildung der historischen Kräfte, selbst von 
einer unparteiischen Anschauung derselben nicht die Rede gewesen, eine Weltgeschichte im 
  
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