24 Geschichtschreibung und Geschichtsforschung. X. Buch.
objektiven Sinne unmöglich geworden sein. Ich, meines geringen Orts, würde nicht daran
gedacht haben, eine Weltgeschichte zu verfassen, wenm nicht für mich im Allgemeinen das Pro-
blem der beiden großen Weltgewalten nach langen Kämpfen und Abwandlungen wäre ent-
schieden gewesen, so daß es einen unpartelischen Kückblick auf die früheren Zahrhunderte ge-
stattete.“ Ranke warf hiermit einen Nückblick auf das ganze Jahrhundert seit der französischen
Revolution im Auf- und Abwogen seiner Tendenzen; aber auch die Wandlung der jüngsten
Vergangenheit hatte er dabei im Auge; wir wissen aus seinen Aufzeichnungen, daß er
das „große politische Ereignis“ der Abwendung vom Liberalismus begrüßte.
Innerhalb der Nationalökonomie war es wiederum vornehmlich die bistorische
Lüchtung, welche dem neuen Soyftem starke Spmpathien zuwandte.
Wenn nun die Historiker von dem guten Recht des Staats so lebhaft überzeugt waren,
so konnten die jetzt sich reicher entwickelnden Studien auf dem Gebiet der Kulturgeschichte
unmöglich in einem dem Walten der staatlichen Mächte abgeneigten Geist gehalten sein.
Wandlung in der Auffassung Es trat eine bezeichnende Wandlung in der
der Kulturgeschichte. Auffassung der Kulturgeschichte ein. Als
in der Periode der Aufklärung, im Zeitalter
Voltaires die kulturgeschichtliche Betrachtung begründet wurde, glaubte man in ihrem
Nanauf die „Haupt- und Staatsaktionen“, auf die Kriege der Staaten und ihre diploma-
tischen Verhandlungen, verächtlich herabsehemn zu müssen. Man wollte die Werke des Frie-
dens, der Zivilisation, der Kultur schildern und lebte in der Vorstellung, daß sie ihren Weg
getrennt von Kriegstaten und Verhandlungen der Staatsmänner gingen. Man feierte die
Verdienste der mittelalterlichen Städte und meinte, daß sie kampflos zu ihrem Kulturbesitz
gelangt seien. Seit dem Aufkommen der Nomantik vermochte sich eine so einseitige
Auffassung nicht mehr ganz zu behaupten: die romantischen Historiker konnten bei ihrer
Wertschätzung der überkommenen staatlichen Mächte und der Liebe, mit der sie alle
geschichtlichen Erscheinungen umfaßten, jener Trennung von Kultur und Staat nicht
beipflichten. Es ist bezeichnend, daß derjenige romantische Historiker, der mit seinem
Blick die weitesten kulturgeschichtlichen Gebiete umspannt hat, Heinrich Leo, das
Wort vom „frischen fröhlichen Krieg“ geprägt hat. Indessen hielt sich bis zum Ende
des 19. Jahrhunderts ein gewisser Gegensatz zwischen Kultur- und politischen Historikern.
In den ersten Jahren der Regierung unseres Kaisers wurde ein interessanter Streit
über dies Verhältnis zwischen E. Gothein und D. Schäfer ausgefochten. Beide sind so
gründliche Kenner der Geschichte, daß die Differenz zwischen ihnen nicht umfassend
sein konnte; dennoch ist es lehrreich zu beobachten, wie von Gothein, der das Recht
der Kulturgeschichte verteidigt, der Staat und sein Wirken um eine Nuance geringer ein-
geschätzt werden wie von Schäfer, der das Recht der politischen Geschichte vertritt. Schäfer
blieben auch Angriffe von der demokratischen Presse nicht erspart. In der Folge ist die
unpolitische Behandlung der Kulturgeschichte durchaus überwunden worden. Ein-
dringende historische Untersuchungen wie die praktischen Erfahrungen der Gegenwart
baben gelehrt, wie nahe Staat und Kultur zusammenhängen. Es ist wiederum charakte-
ristisch, daß derjenige Historiker der Gegenwart, der in seinen Arbeiten die mannigfal-
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