.X. Buch. EGeschichtschreibung und Geschichtsforschung. 25
tigsten Gebiete der Geschichtswissenschaft umfaßt, Felix Rachfahl, der politischen
Richtung angehört. Es läßt sich nicht eine besondere Wissenschaft der Kulturgeschichte
von der allgemeinen oder der politischen Geschichte absondern. Zede Beschäftigung
mit der Vergangenheit, mit irgendeiner Seite der geschichtlichen Entwicklung ist Be-
schäftigung mit der Kulturgeschichte, dient dem Zweck, uns die Kultur der alten Zahr-
hunderte in ihren Abwandlungen vorzuführen.
Wie vorhin bemerkt, setzt in den Jahren 1878 und 1879 eine lebhafte Entwicklung
der kulturgeschichtlichen, namentlich der wirtschaftsgeschichtlichen Literatur ein. Diese
Jahre haben eine stattliche Zahl von wirtschaftsgeschichtlichen Arbeiten hervorgebracht.
Alte Meister der Forschung und Autoren, die gerade erst in die literarische Tätigkeit ein-
treten, reichen sich hier die Hand. Zahl und Bedeutung der Schriften sind wie eine Hul-
digung zum Beginn der neuen politischen Tra. Und diese Fruchtbarkeit der wirtschafts-
geschichtlichen Literatur dauert an. Sachlich und räumlich erobert sie sich immer mehr
Gebiete. Einige Andeutungen mögen davon ein lleines Bild geben.
Neue Refultate der wirtschafts- Durch die Widerlegung der hofrechtlichen
geschichtlichen Forschung. oder grundherrlichen Theorie, welche dem
Nittelalter nur „Herren und Knechte“ zu-
zusprechen geneigt war, wurde dem Staat und der Gemeinde ihr rechter Platz
wiedergegeben und die Mannigfaltigkeit der sozialen Schichtung und der Grundbesitz-
verhältnisse dargetan. Die ständische Abstufung der deutschen Urzeit, die Organisation
des Großgrundbesitzes in der Karolingerzeit, das Aufkommen und die Verbreitung der
Pachtformen im Mittelalter, die BVerwaltung der geistlichen Grundherrschaften, den
großen Bauernkrieg und seine Ursachen machte man zum Gegenstand eingehender
Untersuchungen, die meistens zu ganz neuen Resultaten führten und auch da, wo die
Diskussion die ältere Ansicht bestätigte, eine Vertiefung unserer Anschauungen
lieferten. Eine besondere Gruppe innerhalb der agrargeschichtlichen Literatur bilden,
das bedeutungsvolle Werk der vom Staat geförderten inneren Kolonisation begleitend,
die Darstellungen von G. F. Knapp und seiner Schule über die Geschichte der Bauern-
befreiung in den verschiedenen Ländern, anhebend mit Knapps „Bauernbefreiung in
den östlichen Provinzen Preußens“ (1887). Einen noch breiteren NRaum nahmen die
Arbeiten zur Gewerbe- und Handelsgeschichte, zur Geschichte der städtischen
Berufe ein. Während man bieher die städtischen Handwerker stets als Abkömmlinge
unfreier Handwerker der großen Fronhöfe angesehen hatte, wurde jetzt erwiesen, daß
das städtische Handwerk freien Ursprungs ist, an die Traditionen der ehemaligen Römer-
städte auf deutschem Boden und an landwirtschaftliche Nebenbeschäftigung anknüpft.
Den Begriff der „Stadtwirtschaft“ kannte man schon seit W. H. Riehl und Bruno
Hildebrand, einem der Begründer der Historischen Schule der Nationalökonomie.
Aber jetzt wurden die Ursachen des Aufkommens der Stadtwirtschaft und ihre Grenzen
näher untersucht und im Zusammenhang damit die Bedeutung, die dem Handel im all-
gemeinen und insbesondere im Verhältnis zum Gewerbe im Mittelalter zukam, die
Technik des kaufmännischen Verkehrs und der Ursprung der Kapitalanhäufung ge-
74 1169