26 Geschichtshreibung und Geschichtsforschung. X. Buch.
schildert. In der Wirtschaftspolitik der mittelalterlichen Stadt und ihrer Verwaltung
überhaupt ist vieles vorgezeichnet, was der moderne Staat übernommen hat. Dies
mußte die Aufmerksamkeit auf sie in erhöhtem Maße binlenken in unserer Zeit, in der
sich der Staat wieder zu einer intensiveren Wirtschaftspolitik entschlossen hat. Zwei
Parallelen gibt es in der deutschen Geschichte zu unserer Wirtschaftspolitik: die mittel-
alterliche Stadtwirtschaft und den Merkantilismus, der seinerseits gewissermaßen eine
Ubertragung der Grundsätze der Stadtwirtschaft auf ein größeres Gebiet darstellt. Man
faßt unsere heutige Politik als eine Wiedergeburt des friderizianischen Staatsgedankens,
als Neumerkantilismus auf. Es ist daher begreiflich genug, wenn die Studien zur Ge-
schichte des Merkantilismus mit erhöhtem Eifer betrieben werden.
Unsere Handelspolitik hat aber noch eine besondere Seite, die Wendung nach außen,
die starke Betätigung des deutschen Kaufmanns im Ausland, die Kolonial- und Welt-
wirtschaftspolitik und, zu ihrem Schutz, die Flottenpolitik. Hier lenkt sich der Blick zu den
glanzvollen Zeiten der alten Hansa. Die hansische Geschichtsforschung, die von
jeher den Ruhm strenger deutscher Wissenschaft trug, ist heute noch mehr in das Gesamt-
leben der Nation getreten. Wie die hansischen Erinnerungen zur Belebung unserer
Weltwirtschafts- und Flottenpolitik mitgewirkt haben, so boten die Anforderungen un-
seres Wirtschaftslebens einen erneuten Anreiz zur Vertiefung in die hansische Geschichte.
Der Ursprung der Hanse, die Zeit ihrer kraftvollen Entfaltung und ihr Untergang sind
an den meisten Punkten von Grund aus neu untersucht worden. Oie Geschichte der Hanse
liefert den Beweis, daß der Handel eines Volkes ohne starken politischen Rückhalt nicht
gedeihen kann. Die bistorisch-politischen Beobachtungen, die sich aus der hansischen Ge-
schichte gewinnen lassen, faßte Dietrich Schäfer in einer eindrucksvollen Schrift („Deutsch-
land zur See“, 1896) zusammen, mit der er zugunsten der Verstärkung unserer Flotte
eintrat. Auf der andern Seite folgte die hansische Geschichtsforschung den Anregungen
der Gegenwart, indem der hansische Geschichtsverein sein Programm über sein engeres
Gebiet binaus erweiterte und sich die Erforschung der Verkehrs- und Seegeschichte
Deutschlands zum Zweck setzte.
Nur im Vorbeigehen gedenken wir des großen Aufschwungs der antiken Wirtschafts-
geschichte, die durch die neuen Funde der Papypri eine besondere Anregung erhielt.
Oie Grenzgebiete der Auf dem Gebiet der Wirtschaftsgeschichte werden
Geschichtswissenschaft. heute die Studien an so vielen Stellen und von so zahl-
reichen Forschern betrieben, daß wir in eine unübersicht-
liche Titelaufzählung geraten würden, wenn wir bestimmte Werke und Autoren namhaft
machen wollten. Manchen wichtigen Baustein haben in unserer Periode auch die Na-
tionalökonomen zur Wirtschaftsgeschichte beigesteuert. Doch sind innerhalb ihrer Disziplin
die wirtschaftsgeschichtlichen Studien in der letzten Zeit verhältnismäßig zurückgegangen,
was dadurch veranlaßt ist, daß man hier die begriffliche Durchdringung des Stoffes viel-
fach vernachlässigte, auch die echte historische Methode anzuwenden unterließ. Um so
mehr sehen die zünftigen Historiker es als ihre Aufgabe an, sich der Pflege der Wirt-
schaftsgeschichte zu widmen.
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