28 Geschichtschreibung und Geschichtsforschung. X. Buch.
bedingungen zu fragen, unter denen sie ans Licht treten, und nach den Kulturfaktoren,
die sie hervorbringen. Eine Zeitrichtung, die nicht bloß auf die sozialistischen Kreise be-
schränkt war, wollte lediglich wirtschaftliche Verhältnisse als Ursachen der historischen
Erscheinungen anerkennen. Hier liegen die Irrwege der sozialistischen Geschicht-
schreibung, die die historischen Erscheinungen auf rein wirtschaftliche Verhältnisse zu-
rückführt und es z. B. fertiggebracht hat, die christliche Religion als eine bloße Spiegelung
bestimmter Klassenzustände, als die utopisch-jenseitige Spiegelung des spätantiken
Lumpenproletariats zu erklären. Aber, wie bemerkt, nicht nur der Sozialismus huldigte
einer solchen Neigung. Auch in breiten bürgerlichen Kreisen übte man oft nicht viel
mehr Zurückhaltung. Man glaubte den Stein der Weisen in dem überall vorhandenen
entscheidenden wirtschaftlichen Motiv zu haben. Unsere Zeit hat viel Ubertreibungen
dieser Art gesehen, aber auch die Korrektur gebracht. Wir stehen heute am Schluß leb-
hafter Debatten und können mit Befriedigung konstatieren, daß Einseitigkeiten jener
Art in der Hauptsache überwunden sind.
Geschichtsphilosophie. Die Beschäftigung mit den Motiven der historischen Erschei-
nungen bildet andrerseits wiederum nur einen Teil einer
allgemeineren Richtung der Geschichtswissenschaft unserer Zeit: des Verlangens nach
geschichtsphilosophischer Besinnung. Nachdem lange Zeit der reine Empirismus
vorgeherrscht hatte, hat in unserer Periode wieder die Philosophie ihren Einzug in unsere
Disziplin gehalten. Man fragt nach Zweck und Sinnm der Geschichtswissenschaft, ihren
Grundlagen, ihrem Wesen und ihrer Methode; man will wissen, weshalb sie so verfährt,
wie es ihr Brauch ist. Man fragt ferner nach den maßgebenden Faktoren der geschicht-
lichen Entwicklung, nach dem Zusammenhang der verschiedenen Seiten der Kultur.
Oies jetzt hervortretende Streben, über die eigene Disziplin zur Klarheit zu ge-
langen, geht auf mannigfache Anregungen zurück. Wie es aber zu geschehen pflegt,
hat ein Vorstoß gegen unsere alte Methode die Diskussion besonders entfesselt und
ihr einen größeren Rahmen gegeben. Karl Lamprecht trat am Anfang der neun-
ziger Zahre des vorigen Jahrhunderts unter heftigen Anklagen gegen die NRankesche
Schule, gegen die politische Geschichtschreibung als Reformator der Geschichtswissen-
schaft auf. Er verlangte die Ubertragung der naturwissenschaftlichen Methode auf
die historischen Studien. Nach ihm verläuft die geschichtliche Entwicklung naturgesetzlich.
Zedes Volk macht dieselbe gesetzmäßige Entwicklung durch. Diese Gesetze benannte Lamp-
recht auch bereits. Das maßgebende Bewegungselement sind nach ihm stets die wirtschaft-
lichen Verhältnisse. Der einzelnen Persönlichkeit mißt er keine selbständige Bedeutung
zu. Die Massenbewegungen sind es, womit es die Wissenschaft zu tun hat. Das von ihm
konstruierte Schema unternahm er dann (allerdings nicht mit voller Konsequenz) in einer
Darstellung der „deutschen Geschichte“ durchzuführen. Es waren nicht irgendwelche
politische oder gar sozialistische Tendenzen, die ihn zu seiner Theorie geführt hatten.
Sein Versuch geht vielmehr wesentlich auf allgemeine positivistische Anschauungen zurück,
deren Anhänger damals mancher war, ohne sich über die Herkunft seiner Ansichten
Rechenschaft geben zu können. Lamprecht trieb Meinungen, die in breiten Schichten
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