II. Die orientalischen Wissenschaften
A. Der vordere Orient und Afrika
Von Prof. Dr. C. H. Becker, Bonn
Die Zeiten, da es dem Deutschen gleichgültig sein konnte, wenn „hinten, fern in der
Türkei die VBölker aufeinanderschlugen“, sind endgültig vorüber. Gerade das letzte Viertel-
jahrhundert hat uns Asien und Afrika ungeahnt nahegebracht. Gewaltige neue
Absatzgebiete tun sich dem deutschen Handel, der deutschen Industrie auf, Kapitalien von
einer Höhe, wie sie noch vor einem halben Jahrhundert märchenhaft erschienen, sind von
deutschem Unternehmungsgeist im Orient investiert, die deutsche Flagge weht auf afri-
kanischem Boden wie im fernen Osten. Oiese gewaltige Entwicklung unserer nationalen
und wirtschaftlichen Expansion konnte nicht ohne Wirkung auf die Wissenschaft vom Orient
bleiben. Sprachen und Sitten, Staat und Wirtschaft der Länder unseres Wirkens und
Strebens galt es zu kennen. Dazu kam die deutsche Freude an der Theorie, an geschicht-
lichem Wissen, sie ließ uns die neue Welt, ihre geschichtlichen, religiösen, archäologischen
Probleme, für die wir uns stets interessiert, mun auch mit unseren wachsenden Mitteln
auf breiterer Basis in Angriff nehmen. dealistische Gesichtspunkte und die Notwendig-
keiten der neuen kapitalistischen Welt wirkten in der gleichen Kichtung.
Waren schon vor 25 Jahren die orientalischen Wissensgebiete so weit geworden,
daß ein Einzelner sie nicht mehr umspannen konnte, so hat die jüngste Zeit zu einer
Differenzierung geführt, die mit der Auflösung der alten Naturwissenschaft in die
zahlreichen modernen Sonderdiszipline zu vergleichen ist. Hier wie dort dauert der Elie-
derungsprozeß noch an, neue Zeitschriften, ja ganze Fachliteraturen entstehen für bisher
unbeachtete Gebiete.
Die Selbsthilfe der Missenschaft gegenüber unübersehbar werdender Differenzierung
ist die Enzyklopädie. Auch wir sind in den letzten 25 Zahren wieder in eine enzyklopädische
Periode eingetreten. Manches davon ist auf kapitalistische Instinkte zurückzuführen, aber
zweifellos betätigt sich hier auch ein tief begründetes wissenschaftliches Bedürfnis nach
Ubersicht. Auch heute noch gibt es mutige Geister, die einem Individuum, die sich die
Kraft der Zusammenfassung riesiger Gebiete zutrauen; so unternimmt es ein Deutscher,
einen Grundriß der semitischen Philologie, ein Ztaliener die Annalen des Zslam zu schrei-
ben, aber die allgemeine Tendenz weist den für die Zukunft unvermeidlichen Weg der
Kollektivarbeit. Große Editionen, Inschriftensammlungen, Lezika erstehen als Früchte
kollegialer Zusammenarbeit. Die Tabari-Edition, die Enzyklopädie des Islam und die
orientalischen Patrologien seien hier als bewunderswerte Beispiele genannt.
#OAuch die Fragestellung des Orientalisten hat sich verschoben. Der Standpunkt,
die Orientalistik als biblische Hilfswissenschaft zu betrachten, war schon vor 25 Jahren
überwunden, aber das Neue in der jüngsten Entwicklung ist die Verselbständigung
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