X. Buch. II. Die orientalischen Wissenschaften. 41
logie hatten vor 25 Jahren ihre Kinderschuhe bereits ausgetreten, aber erst jetzt sind sie
innerlich gefeftigt die Hauptstũtzen der altorientalischen Geschichtsforschung geworden.
Auf beiden Sprachgebieten — zuerst im Agyptischen — werden die lexikalischen Arbeiten
von Individuen jetzt durch große Kollektivsammlungen ersetzt, und auch die grammatische
Forschung hat feste Formen angenommen, im Agpptischen besonders für die Geschichte
des Verbums. In das Chaos der demotischen Texte brachte ein deutscher Forscher endlich
Licht. Auch bei der Arbeit mit dem Spaten haben deutsche Gelehrte, vom Staat und
Privaten gefördert, im Wettkampf der Kulturvölker mit in erster Linie gestanden. Das ehr-
würdige Babylon erstand aus dem Schutte von Zahrtausenden, in Assprien, in Agypten, in
Sprien wurde gegraben. Uberall war das Ziel nicht wie früher ein eilfertiges Erhaschen
prunkender Museumsstücke, sondern das Kulturganze jener untergegangenen Welten,
wenn man auch die besten und kostspieligsten Resultate nicht in den heimischen Museen
ausstellen konnte. So wurde auch eine archäologisch-kunstgeschichtliche Würdigung erst-
malig möglich. Aber auch die Funde selber, namentlich die Schriftdenkmäler, erweiterten
unsere Kenntnisse vom alten Orient über alles Hoffen und Erwarten. Von London aus
wurde die gewaltige Keilschriftbibliothek Assurbanipals allmählich erschlossen. Ein Deut-
scher bringt die erste Ordnung in die wüste Masse von 22 000 Tontafeln. Das dieser Biblio-
thek entstammende assyrische Urbild der biblischen Sintfluterzählung erregt die Gemüter.
Im Fahr des Regierungsantrittes unseres Kaisers werden in Agypten die Tell-el-Amarna-
tafeln gefunden, eine diplomatische Korrespondenz in assprischer Sprache und Schrift
aus dem 15. Jahrhundert v. Chr., die mehr als alles bisher Entdeckte den weltweiten Ein-
fluß der babplonisch-assprischen Zivilisation erkennen ließ und dem schemenhaften Bild
jener Zeit mencschliche, ja allzu menschliche Züge verlieh. Deutsche Gelehrte haben diese
Urkunden erstmalig erschlossen. Berliner Ausgrabungen in Sendschirli führen uns in die
eigentümliche Kultur der assprischen Basallen in Nordspyrien ein und schenken uns alt-
aramäische Inschriften von einzigartiger Bedeutung. Deutscher Spürsinn entdeckte erft
vor wenig Zahren in den Schutthügeln von Boghaskjöi die alte Hauptstadt des Hethiter-
reiches. Ein in ägyptischen Hieroglpphen uns bekannter Staatsvertrag erschien nun
plötzlich auch in Keilschriftversion, grundlegende staatsrechtliche BVerhältnisse des zweiten
Jahrtausends wurden von zwei Seiten aus beleuchtet. Die Hammurabistele wurde ge-
funden und erschloß Zusammenhänge, die in Deutschland Gelehrte und auch das große
Publikum beschäftigten. Deutsche waren schließlich auch bei der Ausgrabung und Ent-
zifferung der einzigartigen aramäischen Pappyri von Elephantine in erster Linie beteiligt.
Zur Zeit der Herrschaft der Achämeniden über das Niltal lebt an der Südgrenze Agyptens
eine jüdische Gemeinde mit einem eigenen Tempel. Ihr Tempel wird zerstört, ihre An-
träge auf Wiederherstellung und andere Urkunden sind uns erhalten. Tiefe Blicke tun wir
damit in die israelitische Religionsgeschichte, schwerumfochtene Resultate der Bibelkritik
finden überraschende Bestätigung, die Verwaltung des Achämenidenstaates wird lebendig,
die bistorischen Urkunden der biblischen Bücher Esra-Nehemia treten aus ihrer Isolierung
und werden glaubhaft, von der Fülle der sprachlichen Enthüllungen ganz zu schweigen.
Und aus den gleichen Quellen ersteht uns eine aramäische Version des Achikar romanes,
wahrlich auch das eine Entdeckung von unabsehbarer literaturgeschichtlicher Bedeutung.
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