Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Dritter Band. (3)

  
X. Buch. II. Die orientalischen Wissenschaften. 47 
  
dhistische Kultur geherrscht hat, so haben auch die turkistanischen Funde erkennen 
lassen, daß mit dem Buddhismus in seiner Mahayana-Form indische Kunst und Kultur 
in die weiten Gebiete Mittelasiens hinausgezogen sind, und sie haben so den Weg deut- 
lich gemacht, auf dem die Religion des Buddha Zahrhunderte hindurch ihren Sieges- 
lauf nach Norden und Osten unternommen hat. 
Die lamaistische Ausgestaltung des Buddhismus in Tibet und der Nongolei 
war zwar seit dem Erscheinen des großen, noch immer in der ersten Reihe stehenden 
Werkes von Koeppen im allgemeinen bekannt, aber eine Kenntnis des Nittelpunktes 
dieser seltsamen religiösen Welt, der Tempelstadt Lha-sa, hat doch erst das kriegerische 
Unternehmen Englands gegen Tibet im Jahre 1903/04 gebracht. Das Studium der 
tibetischen Literatur ist während der letzten Zahre allmählich in Fluß gekommen. Die 
Königliche Bibliothek besitzt zwei Ausgaben des Kandschur und eine — leider wenig 
deutliche — des Tandschur, der beiden großen Sammlungen der beiligen buddhistischen 
Schriften und ihrer Kommentare, die in der Mehrzahl aus dem Sanskrit übersetzt sind, 
so daß das Material für die buddhistischen Studien vorhanden ist. Indessen ist hier die 
Arbeit noch nicht über die Anfänge hinausgekommen. Die Indologie, die sich zum Glück 
von ihrer Verbindung mit der Sprachwissenschaft mehr und mehr frei gemacht hat, 
sollte sich statt dessen diesen ihr innerlich verwandten Gebieten zuwenden. Kenntnis 
des Sanskrit ist eine Vorbedingung für tibetische Studien, und andererseits scheint 
die originale tibetische Literatur, die an Umfang und Inhalt reicher ist, als man noch 
vielfach glaubt, auch über indische geschichtliche Zusammenhänge und Entwicklungen 
Licht zu verbreiten, wo die einheimischen Quellen versagen. 
Einen neuen Abschnitt in unserer bis dahin sehr mangelhaften Kenntnis von der 
Geschichte und Kulturgeschichte Mittelasiens haben die bereits erwähnten, mit so glän- 
zenden Erfolgen gekrönten Grabungen in Chinesisch -Turkistan vom Anfang 
dieses JZahrhunderts an eröffnet. Es wird immer ein Ruhmesblatt der preußischen Re- 
gierung bleiben, daß sie, nachdem die erste, zum großen Teil durch private Spenden 
ermöglichte Expedition von 1902/05 die Aufmerksamkeit auf die im Sande des Tarim- 
Beckens ruhenden archäologischen Schätze hingewiesen hatte, ohne Zaudern die Mittel 
bewilligte, um die Nachforschungen im Turfan-Gebiet in größerem Maßstabe fortzu- 
setzen. Die beiden nun folgenden Expeditionen von 1904 bis 1907 haben die daran 
geknüpften Hoffnungen reichlich erfüllt; eine vierte ist jetzt unterwegs. Die Ausstel- 
lungen von einem Teil der Funde, die das Museum für Völkerkunde veranstaltet hat, 
und denen auch der Kaiser sein persönliches Interesse zuwandte, so glänzend sie sind, 
geben bei weitem kein vollständiges Bild von der Bedeutung der Ergebnisse. Die Be- 
richte der chinesischen Geschichtsschreiber, Pilger und Reisenden über die Staaten in der 
großen innerasiatischen Senkung und ihren Randgebirgen vor fünfzehn und mehr Jahr- 
hunderten bekommen jetzt Leben. Wir sehen an den vom Sande aufbewahrten Resten, 
daß diese endlosen Wüsten von heute einst der Schauplatz folgenschwerer welt- 
geschichtlicher Vorgänge und reichen geistigen Schaffens waren. Nicht bloß 
die verschiedenartigsten Bölker und Rassen aus Ost und West gerieten dort durcheinander, 
sondern ganze Kultursysteme trafen zusammen und schufen in gegenseitiger Befruchtung 
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