48 Philologie. X. Buch.
Neues in Religion, Kunst, Literatur und Verwaltung. Überwältigend ist der Ausblick,
der sich bietet. Die Berichte chinesischer Geschichtsschreiber über helläugige und blond-
haarige Rassen in Mittelasien sind keine Märchen, wie man geglaubt hatte, sondern die
aufgefundenen Freskobilder beweisen ihre Richtigkeit. Indogermanen des Westens
batten, wie die entdeckten Sprachreste zeigen, in vorchristlicher Zeit in den Gebieten
des beutigen China gesessen, und persisch-hellenistischer Kultureinfluß war in Gegenden
gedrungen, wo man ihn nie vermutet hatte. Von der verloren geglaubten Literatur
der Manichäer gab der Sand der Gobi originale Handschriften, Meisterwerke der Kalli-
graphie, wieder heraus, und heute wissen wir, daß nicht bloß sprisches Nestorianertum,
sondern auch babplonischer Manichäismus und persischer Mazdaeismus im 7. und 8. Jahr-
hundert ihre Heiligtümer und ihre Gemeinden bis in die Hauptstadt des chinesischen
Reiches und darüber hinaus hatten. Die verblüffenden Ahnlichkeiten zwischen dem
Buddhismus und den Religionen des Westens sind weder ein Spiel des Zufalls, noch
ein „Blendwerk des Teufels“, sondern sie entstammen der gegenseitigen Berührung
und Befruchtung, die in dem Völkergewirr der mittelasiatischen Oasenstaaten erfolgte.
Es ist ein bisher verborgenes und nun um so gewaltiger wirkendes Kapitel der
Weltgeschichte, von dem die Ausgrabungen in Turkistan den Schleier weggezogen
haben.
Nasch dem Schlüssel des Verständnisses für den geschichtlichen Zusammenhang
hätte freilich die abendländische Wissenschaft lange suchen mögen, wenn ihr nicht die
ausführlichen Angaben der chinesischen Literatur zur Verfügung gestanden hätten.
MBielleicht ist dieser Umstand nicht ohne Bedeutung gewesen für die Tatsache, daß auch
in Deutschland die akademische Wissenschaft auf die bis dahin arg vernachlässigte Sino-
logie aufmerksam geworden ist. Die Vorgänge in Ostasien und die aktive Politik, die
Deutschland durch seine neue Weltstellung dort aufgenötigt wurde, hatten zwar China
weit mehr als bisher in das Licht des allgemeinen Interesses gerückt, aber die wissen-
schaftliche Sinologie, d. h. die spstematische Erforschung der ostasiatischen, in ihrem
Wesen chinesischen Kulturwelt hatte zunächst wenig Autzen davon, der Dilettantismus
beherrschte das Feld. Erst während der letzten Jahre hat hier der Wandel begonnen,
indem wenigstens einige Lehrstühle für Sinologie neu geschaffen wurden. Unab--
sehbar sind die Arbeitsgebiete, die sich hier eröffnen, und zwar bei der Mannigfaltigkeit
und langen Dauer des chinesischen Kulturlebens für alle Betätigungen des menschlichen
Geistes; auf keinem sind die Forschungen einem Albschluß nahe, von den meisten sind
erst kleine Ausschnitte berührt, viele noch unbetreten. Die Königliche Bibliothek hat sich
das Verdienst erworben, an literarischem Material aus Ostasien herangeschafft zu haben,
was für sie erreichbar war; Hamburg folgt ihr jetzt. Eine Reihe von vortrefflichen Ar-
beiten auf dem Gebiete der Geschichte, der Religionswissenschaft, der Philosophie,
Literatur und Kunst haben bereits das Aufblühen der jungen, nach bewährten Methoden
betriebenen Wissenschaft in Deutschland angezeigt, voller Hoffnung mag sie der Zukunft
entgegensehen. Mehr als die meisten anderen orientalischen Wissenschaften bedarf die
Sinologie der engen Berührung mit ihrem fernen Arbeitsfelde, weil ihr in den Ländern
Ostasiens die Gegenwart überall hilft, die Vergangenheit zu verstehen, und die Fragen,
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