Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Dritter Band. (3)

III. Die deutsche Philologie 
Von Geh. Reg.-Rat Dr. Edward Schröder, Professor an der Universität Göttingen 
Am 20. September d. Z. war ein halbes Jahrhundert verflossen, seit in Berlin, 
wo der hochherzige König Friedrich Wilhelm IV. ihm und dem Bruder eine neue 
Heimat bereitet hatte, 78jährig von der Arbeit JZacob Grimm abberufen wurde, in 
dessen gewaltigem Lebenswerk die Wissenschaft vom deutschen Altertum nach Umfang 
und Zielen umschrieben schien. Er war von der Sagen- und Märchenforschung zur 
Literaturgeschichte, von ihr zu Grammatik und Lezikographie gelangt, denen er ein 
völlig neues, breites und tiefes Fundament gab; er lieh der Geschichte des deutschen 
Rechtes neues Leben und ungeahnten Reiz, er schuf die deutsche Mythologie und lieferte 
zahlreiche Beiträge zu einer Geschichte der deutschen Sitte. Seine Kenntnis der Quellen 
germanischen Wesens schien unerschöpflich und ist von keinem zweiten Gelehrten je er- 
reicht worden. Zn der germanischen Welt und weit darüber hinaus nahm er eine fast 
königliche Stellung ein. 
Am Tage nach dem Begräbnis brachte die Spenersche Zeitung einen Nekrolog 
aus der Feder eines jungen Wiener Gelehrten, Wilhelm Scherer, der den überreichen 
Ertrag dieses Gelehrtenlebens und die Größe des Verlustes klar und warm zum Ver- 
ständnis der Laien zu bringen wußte; aus diesem Zeitungsartikel erwuchs die bisher 
einzige Biographie Facob Grimms (2. Aufl. 1885), in der die unvergleichliche Leistung 
des Einzelnen auf tiefem historischem Hintergrunde gewürdigt und zugleich ein Aus- 
blick auf das weite Feld der ungelösten Aufgaben geboten wurde. Wenn sich das Arbeits- 
gebiet der deutschen Philologie in Ausdehnung und Beschränkung heute wesentlich 
anders darstellt, als die deutsche Altertumswissenschaft Zacob Grimm,s, so liegt 
das zum Teil an dem Zug zur Arbeitsteilung, den die Entwicklung aller Wissenschaften 
beute aufweist, zum bessern Teil aber ist es das Berdienst Wilhelm Scherers, der nach- 
drücklich und mit Erfolg jenem Zug und damit der verstärkten Gefahr des Banausentums 
entgegengearbeitet hat: er hat die Bande aufs neue gefestigt, welche gerade die deutsche 
Grammatik seit ihrer wissenschaftlichen Begründung mit der vergleichenden Sprachwissen- 
schaft verknüpfen, er hat den philologischen Betrieb auch der neueren Literaturge- 
schichte aus vereinzelten Anfängen kräftig entwickelt und seine Verbindung mit den 
altdeutschen Studien festgehalten. Auf den beiden Hauptgebieten der Sprache und Litera- 
tur lehrte er vorbildlich das fruchtbare Prinzip der gegenseitigen Erhellung: so hat er 
den Grammatiker auf die Umgangssprache und die lebenden Mundarten hingewiesen, 
von dem Literaturforscher verlangt, daß er mit den literarischen Bestrebungen der Gegen- 
wart Fühlung halte. Als Schüler Karl Müllenhoffs war er auch mit dem besonderen 
Arbeitsgebiet des Meisters der Altertumsforschung nach Quellen, Zielen und Methode 
vertraut, und nach dem Tode Müllenhoffs (gest. 19. Februar 1884) faßte er den Entschluß, 
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