Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Dritter Band. (3)

IV. Romanische Philologie 
Von Dr. Heinrich Schneegans, Prof. an der Universität Bonn 
Zm Vergleich zur klassischen Philologie steht die romanische noch ganz in den An- 
fängen ihrer Entwickelung. Bedenken wir nur, daß unsere Wissenschaft erst seit den 
30er Zahren des vorigen Jahrhunderts besteht. Demgemäß wird es nicht wundern, 
daß sie auch in dem Zeitraum, der uns hier beschäftigt, nach neuen Wegen noch sucht 
und tastet. Ja, wir können vielleicht sagen, daß das Charakteristische unserer Periode 
in diesem Orientierungsbestreben liegt. In den letzten 25 Jahren hat die romanische 
Pbilologie vor allem eine außerordentlich rege organisatorische Tätigkeit entwickelt. Das 
Verdienst, theoretisch der jungen Wissenschaft die Wege gewiesen zu haben, gebührt in 
erster Linie Gustav Gröber. In seinem großartigen Grundriß, dessen erster Teil gerade 
1888 erschien, hat er der romanischen Philologie die Aufgaben und Ziele, die sie zu er- 
füllen und zu verfolgen hat, gewiesen. Gelehrte aus allen Ländern hat er um sich zu scharen 
gewußt und jedem die Aufgabe zugeteilt, für die er besonders geeignet war. Wie ein 
Feldherr hat er aber den Aufmarsch der gelehrten Armee geleitet, sie ins Gefecht geführt, 
hat aus den Grenzwissenschaften immer neue Reserven herangezogen, um die Wissen- 
schaft in ihrem ganzen Umfange zu erobern. Er hat die sprachwissenschaftliche Forschung 
von der philologischen im engeren Sinne getrennt, die literaturgeschichtliche bis in ihre 
letzten Ziele, die Erfassung der Kultur und des Geistes der Völker romanischer Zunge 
geführt. Aus der Geschichte der Anfänge der Wissenschaft hat er die Lehren für die Zu- 
kunft gezogen, einerseits die Romanistik in ihren Beziehungen zur klassischen Philologie 
in der gründlichen Erforschung des Bulgärlateins, anderseits zu den modernen Philo- 
logien, zur Sprachwissenschaft im allgemeinen, zur Philosophie und Geschichte im weitesten 
Umfange zu erfassen gesucht. In der Zeitschrift für romanische Philologie, die er leitete, 
in den bibliographischen „Supplementheften“ und den „Beiheften“, die er ihr zugesellte, 
hat er der romanischen Philologie Hilfsmittel gewährt, die für ihre weitere Entwickelung 
ganz unentbehrlich geworden sind. 
Gröbers Beispiel hat Früchte getragen. Bollmöllers kritischer Jahresbericht über 
die Fortschritte der romanischen Philologie, der seit 1890 erscheint, ist eigentlich nichts 
anderes als ein Jahr für Jahr fortgesetzter Grundriß, der über die Errungenschaften 
unserer Romanistik jeden auf dem Laufenden zu erhalten versucht. Und im Laufe der 
Jahre hat sich der Kreis des Wissenswerten immer vergrößert. Werden doch jetzt im 
Jahresbericht sogar die Beziehungen zur arabischen Literatur, zu den afrikanischen Lite- 
raturen, die Beziehungen der Romanen zu den Sloaven in Betracht gezogen! Wird 
sogar die Rechts- und Kirchengeschichte, die Kunst- und Musikgeschichte berücksichtigt 
Wird doch auch die Geschichte des Schul- und Universitätsunterrichtes in der romani- 
schen Philologie sorgfältig verzeichnet! Immer mehr bricht sich eben die Erkenntnis 
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