X. Buch. IV. Romanische Philologie. 59
Bahn, daß, wenn die moderne Philologie mit der klassischen wetteifern will, sie auch
ihrem Beispiele folgend versuchen muß, das gesamte Kulturleben der Gegenwart frem-
der Völker zu erfassen. Freilich verschließt sich die moderne Philologie nicht der Erkennt-
nis der Schwierigkeit dieser Aufgabe. Sie weiß sehr wohl, daß sie nie in derselben Voll-
ständigkeit dieses Ideal erreichen wird, wie die klassische Philologie, die ein zeitlich ab-
geschlossenes und viel engeres Gebiet zu erforschen hat. Aichtsdestoweniger sucht sie dem
Ideale im Maße des Erreichbaren nachzugehen, zur Belebung der engeren Philologie
und Literatur und zugleich in dem Bewußtsein durch tieferes Eindringen in den Geist
der Nachbarn des eigenen Volkes, dem Vaterlande den besten Dienst zu tun. Denn
durch den Vergleich erkennt man erst seine eigenen Schwächen und sucht sich zu bessern,
wo es not tut.
Die zahlreichen „Sammlungen"“ und „Bibliotheken“, die in unserem Zeit-
raum die verstreuten Schriftwerke des romanischen Mittelalters und der romanischen
Neuzeit dem Leser in vorzüglichen Ausgaben vorführen, stehen auch unter diesem so
charakteristischen Zeichen der Organisierungstätigkeit. Denken wir nur an Wendelin
Foersters „altfranzösische und romanische Bibliothel“, an Suchiers Bibliotheca noz-
mannica, an Vollmöllers Gesellschaft für romanische Literatur, an Gröbers Biblio-
theca romanica, an die von Meyer Lübke ins Leben gerufene, von Winter in Heidel-
berg herausgegebene Sammlung romanischer Elementarbücher, die in die Grammatik
und Literatur der romanischen Völker den Anfänger einzuführen sucht, freilich oft ohne
ihm das Eindringen leicht zu machen, an die Sammlung von Voretzsch, die dasselbe
Ziel verfolgt, wenn auch nicht in so großem Umfang, aber mit unleugbarem pädagogi-
schen Geschick, an soviele Chrestomathien und Sammlungen von Abhandlungen und Dis-
sertationen. Denken wir an die Gründung einer Zeitschrift wie Schädels Revue de
dialectologie romane, welche die Mundartenforschung zu zentralisieren sucht, und die
Wintersche Germanisch-romanische Monatsschrift, welche die Ergebnisse der Wissenschaft
in weiteren Kreisen zu verbreiten trachtet. Und so sehen wir wie überall dieselbe rege
organisatorische Tätigkeit im romanischen Lager herrscht. Ja, sie führt sogar zur
Gründung von Instituten, wie die 1900 erfolgte Stiftung des Instituts für rumä-
nische Sprache in Leipzig durch Gustav Weigand, das in seinen Jahresberichten das
Beste bietet, was über NRumeänisch erscheint und in seinem Phonetischen Atlas des daco-
rumänischen Sprachgebiets ein vollständiges Bild der rumänischen Sprache zu geben ver-
sucht. Die bessere Ausstattung so mancher romanischer Seminare — ich denke vor allem
an Frankfurt und Hamburg — die Gründung des von Panconcelli Calzia in letzterer Stadt
geleiteten Instituts für experimentelle Phonetik, das den romanischen Bedürf-
nissen auch in großem Maße Genüge tut, steht unter demselben Zeichen.
Aber auch die Arbeit einzelner ist in unserem Zeitraum eine sehr rege gewesen.
Abgesehen von den im Grundriß erschienenen Grammatiken, abgesehen von der in ÖOster-
reich von Meper-Lübke und seinen Schülern entfalteten außerordentlich fruchtbaren
Tätigkeit auf grammatischem und lezikographischem Gebiete, auf die wir in diesem
Zusammenhang nicht einzugehen vermögen, können wir in Deutschland selbst in gram-
matischer Hinsicht auf einige Leistungen zurückblicken, welche der Entwickelung unserer
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