X. Buch. IV. Romanische Philologie. 61
Erscheinungen auf pspchologischem Wege zu erklären, überhaupt in der Sprache das
Walten philosophischen Geistes zu erkennen. Und, wenn ich nicht irre, so ist auch hier
Gröber Pfadfinder gewesen. Aber zur Erkenntnis sprachlicher Vorgänge ist eine gründ-
liche Kenntnis phonetischer Erscheinungen nicht minder erforderlich. Gar manches,
was man früher sich nicht zu erklären wußte, ist durch die experimentelle Phonetik
erst Uar geworden. Auf einiges hat sie überhaupt zum erstenmal aufmerksam gemacht.
Biele dialektische Arbeiten lassen sich ohne ihre Hilfe gar nicht mehr bewerkstelligen.
Wenn wir von der Linguistik zur Philologie im engeren Sinne, zur Erklärung und
Interpretation älterer Texte, zur Rekonstruktion des mutmaßlich echten Denkmals, in
einem Worte zur Textkritik übergehen, so können wir sagen, daß in unserm Zeitraum
die in Gröbers Arbeit über die handschriftliche Gestaltung der Fierabrasdichtung und in
Gaston Paris' Alexisausgabe ausgesprochenen Grundsätze über Textkritik bei uns maß-
gebend geworden sind. Eine Reihe hervorragender Ausgaben, namentlich altfranzösi-
scher, dann aber auch provenzalischer und italienischer Texte, sind bei uns in Deutschland
in den letzten Zahren erschienen. Denken wir vor allem an W. Foersters mustergültige
Ausgaben Chrestiens und so vieler anderer mittelalterlicher Franzosen, an die text-
kritische Arbeit Toblers, Suchiers, Stengels, Appels, Stimmings, Ebelings, Fried-
wagners, Schultz-Goras, und wir erhalten schon durch die bloße Aufzählung dieser Na-
men einen Schimmer der in unserm Zeitraum so regen textkritischen Leistung. Wenn
man sich die Grundsätze, die bei Herstellung von Ausgaben befolgt wurden, vergegen-
wärtigt, kann man im großen und ganzen wohl sagen, daß man mit den Jahren immer
skeptischer geworden ist und immer mehr zu der kleinmütigen Erkenntnis gelangt ist,
daß wir auch bei gewissenhaftester Arbeit und unter den günstigsten Umständen kaum
dazu kommen können, das wahrscheinlich Echte, geschweige denn das wirklich Echte zu
rekonstruieren. Die Uniformierung der Texte hat man deshalb immer mehr als etwas
Gewaltsames empfunden und sie möglichst vermieden. Die Aufnahme von Konjekturen
in den Text hat man sich immer seltener gestattet. Fast möchte ich sagen, daß man in
dieser Beziehung zu zaghaft geworden ist und der Kombinationstätigkeit zu wenig zu-
traut. Wer gar nichts wagt, wird auch gar nichts gewinnen. Durch Hypothesen, auch
wenn sie nicht immer gleich zum Ziele führen, kommt man doch weiter als durch ängst-
liches Verzichten von vornherein.
Die Herausgeber altfranzösischer, provenzalischer und italienischer Texte wurden
eo ipso dazu geführt, sich auch mit den literarischen Fragen abzugeben, welche ihre
Autoren betrafen. Datierung der Texte, Ursprungsfragen, Verhältnis zu anderen Dich-
tungen wurden eifrig erörtert. Mit den Fragen der Entstehung der altfranzösischen
Heldendichtung hat man sich auch bei uns ebenso wie in Frankreich, Ftalien, ÖOsterreich
beschäftigt. Im großen und ganzen kann man wohl sagen, daß man bis in die jüngste
Zeit im Deutschen Reich konservativer geblieben ist, wie anderswo. Oie revolutionären
Theorien sind von Österreich und Frankreich gekommen. Becker und Bödier sind die
Umstürzler, während man bei uns große Mühe gehabt hat, der althergebrachten Theorie
zu entsagen, kraft deren die Chansons de geste unmittelbar nach den Ereignissen ent-
standen sind und der neuen sich anzuschließen, welche behauptet, daß die Epen weit
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