X. Buch. IV. Romanische Philologie. 63
vollen Büchern verständlich zu machen wußte. Und immer kühner wurde man in der
Romanistenwelt. Wagte sich nicht Morf sogar an eine gesamte Literatur der
romanischen Völker? Auch hier vereinigte sich der Künstler mit dem Gelehrten, um ein
Werk zu schaffen, das zwar selbstverständlich nicht erschöpfend, vielleicht auch nicht immer
ganz gleichmäßig war, aber jedenfalls von der Geisteswelt der Romanen vom Mittel-
alter bis zur Neuzeit in keck dahingeworfenen Skizzen der großen Zusammenhänge, aber
auch zugleich in fein durchdachten und ausgeführten Silhouetten der einzelnen Schrift-
steller ein originelles Bild bot, das noch keiner zu geben auch nur geträumt hatte.
Daß man bei so eifriger Bearbeitung der Literatur auch die Beachtung ihrer äußeren
Form, ihrer metrischen Eigentümlichkeiten namentlich, nicht vernachlässigte, wird uns
nicht wunder nehmen. Metrische Untersuchungen der Ursprünge romanischer Vers-
maße, Darstellung der Metrik der Romanen überhaupt, Erörterung von Einzelfragen
sind auch der Gegenstand deutscher Forschung gewesen. Im Vergleich dazu bleibt die
Stilistik noch sehr zurück. Hier sind wir über ganz bescheidene Anfänge noch nicht hinaus.
Dagegen hat man sich mit der Kultur des Mittelalters und später auch der Neu-
zeit in Einzeluntersuchungen sehr eifrig beschäftigt. Daß jede darüber erschienene Schrift
großen Wert habe, kann man zwar nicht behaupten, aber es ist zu hoffen, daß die Einzel-
arbeit auch hier die Gesamtarbeit hervorrufen wird. Schon Voßlers neuestes Werk
über Frankreichs Kultur im Spiegel seiner Sprachentwickelung ist ein Anzeichen des
Verständnisses, das sich in dieser Hinsicht anbahnt. Sprachgeschichte und Literatur sind
nicht durch Stacheldraht von einander getrennte Provinzen, sie beleben einander und
müssen sich vereinigen, um vom Kulturleben der Romanen älterer und neuerer Zeit
ein vollständiges Bild zu entwerfen. Das äußere und innere Leben unserer Nachbarn
romanischer Zunge ganz zu erfassen, ist ja das Zdeal, dem wir nachstreben. Ob und
wie wir es erreichen, bleibt der Zukunft vorbehalten.
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