Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Dritter Band. (3)

  
66 Philologie. X. Buch. 
  
Größe der neuen Aufgabe zu ermessen. Mit der Sprache von heute kam notwendig 
die Literatur und Landeskunde von gestern herein. Neue Unterrichtsweisen mußten er- 
funden werden: Phonetik, Sprechkurse, Auslandsbesuche. ODa es sich um Ver- 
mittlung eines praktischen Könnens handelte, rückte das Üben viel mehr als bisher in 
den Vordergrund. Aus einer theoretischen Wissenschaft wurde das Fach halb 
zu einer angewandten. 
Die A#rbeit wurde biemit verdoppelt, aber nicht die akademische Arbeitszeit der 
Lernenden, nicht die Arbeitskraft der Lehrenden. Indem die Studierenden auf der 
modernen Seite fortschritten, mußte eine verbesserte Pädagogik ein Zurückbleiben auf 
der mittelalterlichen Seite möglichst vermeiden — noch dazu bei verminderter Latein- 
kunde der Zuhörerschaft. Indem sich eine Unzahl Vorprüfungen, Zwischenprüfungen, 
Endprüfungen, Seminararbeiten und Oissertationen einstellte, sollten die Dozenten 
doch in der wissenschaftlichen Produktion nicht erschlaffen. Es war eine Krisis, und sie 
ging nicht ab ohne Unzuträglichkeiten. 
Indes zeigte sich wieder die Wahrheit des Sprichworts, daß Not Tugend schafft. 
Im Ringen mit den realistischen Schwierigkeiten ergaben sich bisher unausgenützte Mittel 
und Wege, um die Historische Seite des Faches zu fördern; aus den Verlegenheiten 
der Anglistik vor zehn und zwanzig Jahren erwuchsen ihr bessere Aussichten für 
die Zukunft. 
Die Phonetik in erster Linie erstarkte an der Schwierigkeit der englischen Laute, 
Wortakzente und Satzmelodie: Ohrbildung und Zungenübung wurden dabei gefördert. 
Die Hoffnungen, daß dies zu einer Blüte der experimentellen Phonetik führen würde, 
haben sich allerdings bisher nicht erfüllt. Vergebens zog Professor Scripture mit seinen 
Lautkurven, Grammophonplatten und Vergrößerungsapparaten von einer deutschen Uni- 
versität zur anderen, um hingebungsvolle Mitforscher zu gewinnen. Die Dozenten waren 
bereits überlastet, die Studierenden dachten meist an das Staatserxamen, beiden fehlte 
gewöhnlich die erforderliche Vertrautheit mit Akustik und Rechenkunst. Aber das Stu- 
dium der modernen Oialekte zog den Vorteil: in den entlegensten englischen Graf- 
schaften tauchten jetzt junge deutsche Anglisten auf mit Notizbuch und Aufnahms- 
maschine für die bäuerlichen Zdiome. An den meisten Orten ist die Mundart in raschem 
Aussterben begriffen; sie ist unnützlich, daher dem Engländer nicht sonderlich erforschungs- 
wert; und doch kann sie uns als Palimpsest dienen, um die Sprachgeschichte in verflossenen 
Jahrhunderten und selbst die angelsächsische Einwanderungsweise aufzuhellen. A#uch 
direkt kam die Phonetik unseren Linguisten zu Hilfe und lehrte sie gewohnheitsmäßig 
sondern zwischen Schreibung und Sprechweise, Literatur- und Umgangerede, haupt- 
städtischem und provinziellem Schriftgebrauch. In aller Linguistik wird es immer mehr 
offenkundig, daß man das Wesen der Sprache zunächst da beobachten muß, wo sie noch 
erklingt: im lebendigen Gebrauch, und dann erst in den alten Aufzeichnungen, über deren 
Zustandekommen uns selten eine Quelle unterrichtet. Dem Anglisten hat dies der Zwang 
zur Phonetik besonders eingeprägt. Die Früchte davon treten reichlich zutage in den alt- 
englischen Lautforschungen von Sievers-Leipzig und Bülbring-Bonn, Nors- 
bach-Göttingen und Luick-Wien. Die Namen deuten zugleich an, daß hierbei zwischen 
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