Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Dritter Band. (3)

  
78 Mathematik. X. Buc. 
  
lichst allgemein verständlicher Sprache zu entwickeln, sind in den beiden Büchern „Wis- 
senschaft und Hppothese“ und „Wert der Wissenschaft“ durch die deutschen UÜbersetzungen 
in Deutschland allgemein bekannt und viel gelesen worden; sie geben eine Vorstellung 
von dem die Mathematik durchdringenden philosophischen Geiste der Epoche. 
Wie Hilbert in seinem berühmten Vortrage auf dem 
internationalen Mathematikerkongreß zu Paris 1900 
bemerkt hat, sind es bedeutende Probleme, die 
den Fortschritt der mathematischen Wissenschaft bedingt haben. „Wie über- 
haupt jedes menschliche Unternehmen Ziele verfolgt, so braucht die mathematische 
Forschung Probleme. Durch die Lösung von Problemen stählt sich die Kraft des 
Forschers; er findet neue Methoden und Alusblicke; er gewinnt einen weiteren und 
freieren Horizont.“ Dadurch kommt er aber auch wieder auf neue Probleme, wie dies 
Moritz Cantor (1898) in dem Vorwort zur Schlußlieferung des dritten Bandes seiner 
Vorlesungen über Geschichte der Mathematik durch Ausführung des von Hilbert an- 
gedeuteten Bildes schildert: „Ich habe den Gipfelpunkt erreicht, den ich 1880 als Endziel 
genannt habe, und nachdem ich angelangt bin, geht es mir, wie es so vielen Reisenden 
in fremden Landen ergangen ist. Der Gipfel, den ich unter großer Anstrengung er- 
klommen habe, erweist sich als Vorberg, und hinter und über ihm bleiben neue hohe 
Spitzen zu erreichen, neue und lohnende Ausblicke nach rückwärts wie nach vorwärts 
versprechend.“ 
Als ein Beispiel für die hier gegebene Schilderung diene die Schlußbemerkung zu 
Vivantis Bericht über den gegenwärtigen Stand der Theorie der ganzen transzen- 
denten Funktionen. „Mancher dürfte denken, die von den ganzen Funktionen gebildete, 
enge Funktionenklasse sei bisher so sehr bearbeitet worden, daß ihre Erforschung bald er- 
schöpft sein wird. Das kann nicht sein; in dem Entwicklungsgange der Wissenschaften er- 
zeugt jede überwundene Schwierigkeit neue, härtere Schwierigkeiten, jede gelöste Frage 
neue, höhere Fragen. Als der Weierstraßsche Satz ans Licht trat, konnte man wohl 
glauben, es gebe nichts weiter über die ganzen Funktionen zu sagen, nachdem ihre allge- 
meine Form aufgestellt worden war; dagegen war die Weierstraßsche Formel eben der 
Ausgangspunkt zur Bildung einer neuen, blühenden Theorie, insofern als sie die Mannig- 
faltigkeit des Verhaltens der ganzen Funktionen hervortreten ließ und die Elemente zu 
einer Klassifikation derselben darbot. Später erledigte Picard durch seinen Satz ganz 
erschöpfend die sich von selbst darbietende Frage, ob es ganze Funktionen gibt, welche, 
analog wie ex, gewisse Werte nicht annehmen dürfen; und doch bildet dieser Satz nur das 
erste Glied einer langen, immer mehr und mehr sich ausdehnenden Kette von interessan- 
ten und fruchtbaren Untersuchungen. Ahnlich verhält es sich mit dem heutigen Stande 
unserer Theorie; das Errungene lehrt uns, was noch weiter zu tun übrig bleibt. Man 
muß die algebraische Richtung wieder aufnehmen, aus der man wohl nicht alles gezogen 
hat, was sie liefern kann. Der Gebrauch der kürzlich eingeführten mächtigen Unter- 
suchungemittel soll die Theorie der Funktionen von endlicher Ordnung verfeinern und 
vertiefen, und parallel derselben wird diejenige der Funktionen von unendlicher sowie 
Bedeutung mathematischer 
Probleme. 
  
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