Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Dritter Band. (3)

  
X. Buch. Mathematik. 79 
  
der Funktionen von nullter Ordnung laufen, welche letzteren eine besondere Be- 
achtung verdienen.“ 
So sind denn auch die letzten fünfundzwanzig Jahre für die Mathematik frucht- 
bar geworden durch die Verfolgung früher angedeuteter Wege, fruchtbar in der Ent- 
stehung neuer Zdeen. Es soll der Versuch gemacht werden, dies an einigen Beispielen 
zu zeigen. 
Zahlbegriff. Transfinite Zahlen. Der einfachste Begriff der Arithmetit scheint 
der der Zahl zu sein, und doch ist er einer 
der schwierigsten, über den viel gestritten ist, der von mathematischer und philo- 
sophischer Seite wieder und wieder untersucht und zergliedert ist. Schon die Frage, 
ob die Kardinalzahl oder die Ordinalzahl den Ausgang für den Zahlbegriff liefere, ist 
lebhaft umstritten und so wenig geklärt, daß Picard in seinem Berichte über die Ent- 
wicklung der mathematischen Analpsis und ihre Beziehungen zu einigen anderen Wissen- 
schaften (Saint-Louis 1904) darauf verzichtet, bierüber etwas Endgültiges aussagen zu 
wollen. Bei den Erweiterungen des Zahlbegriffes zum Begriffe der inkommenfsu- 
rablen und der komplexen Zahlen sind so große Meinungsverschiedenheiten möglich, 
daß die beiden großen Mathematiker der Berliner Akademie Weierstraß und Kronecker 
darüber in einen nicht zu versöhnenden Gegensatz gerieten. Und dabei wurde zu der- 
selben Zeit in der Auffassung des Zahlbegriffes von einem ihrer Schüler, Georg Cantor, 
der größte Fortschritt herbeigeführt, der nach Uberei#stimmung aller jetzt lebenden Mathe-- 
matiker seit langem gemacht ist. Die bezüglichen Arbeiten über transfinite Zahlen 
und Mengenlehre wurden schon in den siebziger Jahren des vorigen Zahrhunderts ver- 
öffentlicht, von Weierstraß mit Beifall ausgenommen, von Kronecker mit Unbehagen 
abgelehnt, und sie übten erst in der zur Besprechung stehenden Periode ihren Einfluß 
aus. Hilbert sagt hierbei in seiner Gedächtnisrede auf Minkowski: „Minkowski ver- 
ehrte in Cantor den originellsten zeitgenössischen Mathematiker zu einer Zeit, als in 
damals maßgebenden mathematischen Kreisen der Name Cantor geradezu verpönt 
war und man in Cantors transfiniten Zahlen lediglich schädliche Hirngespinste erblickte. 
Minkowski äußerte wohl, daß Cantors Name noch genannt werden würde, wenn 
man die heute — weil sie modisch sind — im Vordergrunde stehenden Mathe- 
matiker längst vergessen hat. Der Umstand, daß ein Mann wie Minkoweki, der das 
exakte Schließen in der Mathematik gewissermaßen verkörperte, und dessen Sinn für 
echte Zahlentheorie über allem Zweifel war, so urteilte, ist der Verbreitung der TCantor- 
schen Theorie, dieser ursprünglichen Schöpfung genialer Intuition und 
spezifischen mathematischen Denkens, wie sie mit Recht kürzlich ein jüngerer 
Mathematiker genannt hat, sehr zustatten gekommen.“ 
Die Mengenlehre als Grundlage der Analpsis hat erst in den letzten Jahrzehnten 
allgemeine Anerkennung gefunden. An diesem Beispiele sehen wir, daß in der Wissen- 
schaft ein fruchtbarer Gedanke gleich einem Samenkorn Zeit braucht, um Wurzel zu fassen 
und Blüten zu treiben, bis endlich reiche Früchte den Lohn für die zur Entwicklung auf- 
gewandte Mühe lohnen. 
  
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