228 Die Entwicklung der Chirurgie. X. Buch.
Richt minder wichtig als der Ausbau der aseptischen Wundbehandlung war für
die Entwicklung der modernen Chirurgie die Besiegung des Schmerzes. Von jeber
muß ein solches Ziel den Chirurgen vorgeschwebt haben, und doch haben wir weder
aus dem Altertum noch aus dem Mittelalter Kunde von Erfolgen oder auch nur Be-
mühungen auf diesem Gebiete. Nur roheste Versuche sind uns bekannt geworden. Mittel,
wie die gewaltsame Umschnürung eines zu operierenden Gliedes, wirkten eigentlich nur
dadurch, daß ein heftiger Schmerz die Aufmerksamkeit vom anderen ablenkte. Erst das
neunzehnte Zahrhundert hat auch hier die entscheidende Wendung herbeigeführt und die
unendlichen Wohltaten der Narkose und der wirkungsvollen örtlichen Schmerzbetäubung
geschaffen.
Narkose. Oie allgemeine Betäubung ist zwar schon in der ersten Hälfte des ver-
— — gangenen Säkulums mit Lachgas geübt worden, die eigentliche #ra#
der Narkose aber beginnt erst um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, als von
Amerika aus im Jahre 1846 der Ither und schon im folgenden Jahre von England her
das Chloroform zu uns gelangte. Zahlreiche andere Betäubungsmittel sind seitdem
entdeckt und angewandt worden, sie haben dem Ather und Chloroform niemals ernst-
hafte Konkurrenz gemacht. Sehr merkwürdig ist es, daß das ursprüngliche Narkotikum,
der #ther, von dem später eingeführten Thloroform zunächst fast völlig verdrängt wurde,
daß aber in neuerer Zeit wiederum das Chloroform dem Ather hat weichen müssen. Die
Gründe für die Niederlage des #thers lagen vorwiegend in technischen Momenten, es
sprachen gegen ihn seine Feuergefährlichkeit, die Schwierigkeit des Transportes, die
größere zur Narkose notwendige Dosis. Daher blieben zunächst nur wenige Arzte
dem Ather treu, in klarer Erkenntnis seiner großen Vorzüge, nach und nach aber
nahm ihre Zahl wieder zu, und heute gibt es kaum noch Operateure, welche die
Betäubung mit Chloroform der mit Dbther vorziehen. Den Umschwung hat die
große, Hunderttausende von Narkosen umfassende Statistik der Deutschen Gesellschaft
für Chirurgie gebracht. Sie ergab die anfänglich überraschende Tatsache, daß beim
Ather auf etwa 5000, beim Chloroform aber schon auf 1200—2000 Narkosen ein Todes-
fall kommt. Oieses Zahlenverhältnis ergab sich immer wieder, je weiter die Statistik
fortgeführt wurde, und damit war endgültig erwiesen, daß das Chloroform zwar
das in der Anwendung bequemere, aber das weitaus gefährlichere Narkotikum ist.
Der Unterschied der beiden Narkotika liegt vorwiegend in der Einwirkung auf das
Herz, denn während der #ther ein beliebtes Anregungemittel für das Herz darstellt,
ist das Chloroform ein Herzgift, gegen welches selbst Menschen mit völlig gesundem Herzen
eine unberechenbare Idiosynkrasie haben können.
Daß trotzdem der Siegeszug des IAthers zunächst noch auf
sich warten ließ, hängt damit zusammen, daß die Technik
der Athernarkose schwieriger ist als die der Chloroformnarkose, und daß auch der Atber
Lachteile besitzt, die besonders in einer starken Anregung der Speichel- und Schleim-
sekretion bestehen. Nachdem aber einmal die geringere Fährlichkeit der #thernarkose
einwandfrei erwiesen war, warfen sich nun die Chirurgen mit Feuereifer auf die
Athertropfnarkose.
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