Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Vierter Band. (4)

  
X. Buch. Die Entwicklung der Chirurgie. 257 
  
Ernst von Bergmannt! Er hat uns gelehrt, die Schußwunden trotz ihres Keimgehaltes 
als nicht infiziert zu betrachten, weil der Körper die Infektion überwindet, er hat die 
Sonde verbannt, die Fingeruntersuchung der frischen Wunde als Kunstfehler gebrand- 
markt und dadurch unendlichen Segen gestiftet. 
Oie Erkenntnis, daß die frische Schußverletzung in erster Linie der Ruhe bedarf, damit 
die natürlichen Schutzkräfte des Organismus ungestört wirken könmen, ist heute zur Nicht- 
schnur jedes kriegschirurgischen Handelns geworden. Aus ihr ergeben sich als Grund- 
regeln der modernen Kriegschirurgie: die aseptische Okklusion der frischen Wunde, die 
Zurückhaltung bei der Entfernung von Geschossen, die primäre Kuhigstellung der Gelenk- 
und Knochenschüsse, der schonende Transport; aus ihr ergibt sich auch, daß von dem 
Prinzip der Ruhe nur unter dringender Indikation abgegangen werden darf zugunsten 
operativen Handelns. Diese Zurückhaltung gilt so lange, als der Verwundete sich nicht 
unter Bedingungen befindet, welche eine dem Frieden entsprechende Indikationsstellung 
gestatten; denn der operative Charakter der modernen Chirurgie darf nur dort zur Geltung 
kommen, wo auch die moderne Sicherheit des operativen Erfolges durch die Gunst. der 
Verhältnisse garantiert wird. Auf dem Verbandplatze ist dies nie, im Feldlazarette nicht 
immer der Fall, und so wächst die operative Indikationsstellung und nähert sich immer 
mehr der des Friedens, je mehr der Verwundete sich vom Schlachtfelde entfernt. 
Ein Kapitel der Kriegschirurgie ist berufen, in Zu- 
kunft eine große Rolle zu spielen, die Chirurgie des 
Seekrieges, der stets zu den grausamsten Erscheinungen der Kriegegeschichte gehört hat. 
Oie ersten größeren Erfahrungen auf diesem Gebiete hat der russisch-japanische Feldzug 
gebracht, während die spärlichen früheren Seekämpfe der letzten Dezennien uns wenig 
gelehrt haben. 
Eine höchst wichtige Eigenart des Seekampfes liegt darin, daß auch ohne Verlust 
des ganzen Schiffes das Sanitätspersonal in einer Weise ausgeschaltet werden kann, 
welche im Landkriege undenkbar ist. So traf während der Schlacht am VBalu eine 
chinesische 30,5 cm-Granate das japanische Kriegsschiff „Hipei“ und krepierte im Haupt- 
verbandplatz. Beide Arzte des Schiffes, die Mehrzahl der Lazarettgehilfen und Kranken- 
pfleger wurden augenblicklich getötet, die übrigen schwer verletzt. Ein Dezennium später 
wurde in der Seeschlacht bei Tsushima auf einem russischen Schiff der gesamte ärztliche 
Stab durch das Kohlendioryd der krepierenden japanischen Granaten betäubt. Eine 
weitere Besonderheit des Seekampfes besteht darin, daß sich eine unverhältnismäßig 
hohe Zahl schwerster Verwundungen auf engsten NRaum und kürzeste Zeit zusammen- 
drängt. Man bedenke, daß die Seeschlacht bei Lissa in 2 Stunden, die gewaltige Schlacht 
bei Tsushima nach der Angabe Togos gar in 37 Minuten entschieden wurde. Auch die 
Art der Verwundungen in der Seeschlacht trägt besonderen Tharakter. Die Gewehr- 
schußwunde verschwindet fast ganz, im Vordergrunde stehen die Zerreißungen durch 
die Fragmente der Granaten und die zersplitterten Holz- oder Metallteile des Schiffes. 
Bielfache Verwundungen sind überaus häufig. An typischen Verletzungen kommen hbinzu 
die oft äußerst schweren Verbrennungen und Verbrühungen, die Läsionen durch den 
Luftdruck der feuernden Geschütze, die Betäubungen und Erstickungen durch giftige Gase. 
Chirurgie des Seekriegs. 
  
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