112 Allgemeine Naturwissenschaft; Botanik; Abstammungslehre. X. Buch.
pflanzen. Bestenfalls ist man durch diese Versuche, mit denen die Kunstfertigkeit der
Gärtner sich seit Jahrhunderten beschäftigt hat, dahin gelangt, einige neue Arten, und
zwar solche, die in ihren Merkmalen einander sehr nahe stehen, so daß man sie auch erbliche
Nassen nennen kann, zu erzielen. Die Hauptsache bleibt aber: alle Züchtungsversuche
haben nur neue Pflanzen- und Tierformen ergeben, die auf gleicher morphologi-
scher Organisationshöhe mit deren Eltern stehen; eine tppische Verschiedenheit durch
das Experiment zu erzielen oder gar eine Aufwärtsentwicklung von niederen zu höheren
Typen ist nirgends geglückt, und es scheint aussichtslos zu sein, sie von der Zukunft zu
erwarten. Wenn dem gegenüber gesagt wird, es bedürfe sehr langer Zeiten, damit die
Umwandlung eines Typs in den andern zustande komme, so ist dagegen zu erinnern,
daß bei Neubildungen, die sich stets auf gleicher Organisationshöhe halten, ein morpho-
logischer Fortschritt der Entwicklung ausgeschlossen erscheint; meinte doch auch der aus-
gezeichnete Botaniker Sachs, eine solche Erwartung komme ihm vor, als wenn man daran
denken wollte, daß bei recht langer Zeitdauer ein Oreieck sich doch vielleicht von selbst in
eine Ellipse verwandeln könne.
Als wichtiges Ergebnis der höchst verdienstlichen neueren Züchtungsversuche ist noch
hervorzuheben, daß äußere Einflüsse bei der Neubildung erblicher Rassen wirkungslos
zu sein scheinen, während Darwin und Nägeli solchen äußeren Einflüssen eine besonders
große artbildende Wirksamkeit zuschrieben. Die experimentell erweisliche, wenn auch
beschränkte Plastizität der Arten verhält sich also insofern analog den Vorgängen der
embrpologischen Entwicklung, als auch bei diesen die inneren, erblich überkommenen Ein-
flüsse das entscheidende Moment der Entwicklung bilden.
Wenn somit Paläontologie und Experiment für einen Beweis der Abstam-
mungslehre sich unzulänglich erweisen, so fragt sich, wo wir die für die evolutio-
nistische Anschauung maßgebenden Argumente zu suchen haben.
Da kommen in erster Linie die rudimentären Organe in Betracht, die
eine De#utung geradezu herausfordern. Diese Deutung fällt unbe-
dingt in dem Sinne aus, daß das Dasein von Pflanzen oder Tieren mit rudimentären,
d. h. für den Gebrauch ungeeigneten und gar nicht zur Geltung kommenden Organen
nur verständlich wird, wenn wir annehmen, daß sie von Vorfahren abstammen, die die
gleichen Organe in gebrauchsfähiger Ausbildung besaßen. Es sei hier statt vieler nur ein
Beispiel aus der Pflanzenwelt und eins aus der Tierwelt erwähnt.
Innerhalb der Pflanzenfamilie der Skrophulariazeen besitzt die GSattung Verbascum
5 Staubfäden, die meisten andern Gattungen haben deren nur 4, bei einigen steht an
Stelle des fünften Staubfadens ein nutzloser Stummel; bei Gratiola sind von diesen
4 Staubfäden wiederum 2 zu Stummeln verkümmert, bei Veronica finden wir nur
2 Staubfäden ohne Rudiment der 3 andern. Man schließt daraus, daß Verbascum den
Grundtypus der Familie bildet, aus dem die andern Gattungen unter Verkümmerung
eines Teils der Staubfäden sich entwickelt haben.
Zu den Säugetieren gehören die Wale, die darum auch vier Gliedmaßen haben,
von denen aber lediglich die beiden vordern als Flossen zum Schwimmen dienen, während
Deutungen.
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