X. Buch. I. Brückenbau. 337
an bedeutendere Aufgaben heran und stellte schon frühzeitig gewölbte Bauwerke her.
Aber wenn auch ein Vorwärtsschreiten auf diesem empirischen Wege möglich ist, so muß
es doch als ein Tappen im Finstern bezeichnet werden. Erst wenn mit Hilfe der
Wissenschaft der Ausblick auf die verschiedenen möglichen Wege des Fortschreitens erreicht
ist, kann die zweckmäßigste Wahl getroffen werden.
Gerade der Brückenbau ist eine Vereinigung von Kunst, Wissenschaft und
Technik, die einerseits nicht ohne wissenschaftliche Erkenntnis vorwärtsschreiten kann,
andererseits aber auch die Anwendung der Wissenschaft durch freudige Genugtuung in
dem Ingenieur belohnt.
Die Neuzeit steht im Zeichen des Verkehrs: Verkehr bedingt Straßen und Eisen-
bahnen und als deren vornehmsten und schwierigsten Teil: Brücken. Die Bahnen können
nicht mehr haltmachen an breiten Strömen und Meeresarmen, die große Weite muß
überbrückt werden. Solche große Aufgaben können nur gelöst werden mit Hilfe der
Mechanik. Die Gesetze der Mechanik, denen wir auf der Erde unterworfen sind, geben
uns die Grenzen an für unsere Leistungen, aber auch die Mittel für die richtige
Anordnung.
Die heutigen Brücken haben so außerordentliche Größe und müssen so bedeutende
Lasten tragen, daß nur auf gründlicher Berechnung beruhende Konstruktion Sicherheit
für den Bestand leistet. Von der Richtigkeit der Berechnung hängt unter Umständen das
Leben vieler Menschen ab.
Die Anwendung der Gesetze der Mechanik auf die Technik erfolgt nach zwei Rich-
tungen:
1. Es sind die Gesetzmäßigkeiten klarzustellen, welchen unsere Konstruktionen
unterworfen sind, und zwar in mathematischer Form;
2. es sind die Werte der in den Gleichungen vorkommenden Konstanten zu ermitteln.
Für die Lösung beider Aufgaben sind sorgfältig und planmäßig angestellte Versuche
unentbehrlich; die Versuche bedeuten Fragen an die Natur, ihre richtige Verwertung gibt
Aufschluß über die Gesetze und die Konstanten. Sonach sind hier die Fortschritte in der
Erkenntnis der Gesetzmäßigkeiten und in der Anstellung planmäßiger Versuche im Laufe
dbes letzten Bierteljahrhunderts zu besprechen.
1. Fortschritte in der Erkenntnis der Gesetzmäßigkeiten, welche der Brückenberech=
nung zugrunde liegen.
Gesetzmäßigkeit der Konstruktionen. Die Gesetze, denen unsere Konstruktionen
zu genügen haben, sind seit langer Zeit
bekannt: vor allem sind es die Gesetze des Gleichgewichts. Mit Hilfe dieser Gesetze kann
man eine große Zahl von Konstruktionen sicher berechnen, so vor allem die statisch be-
stimmten Konstruktionen. Neben diesen sind solche vorhanden, für deren Berechnung die
elastischen infolge der Belastung eintretenden Formänderungen und die Wärmeänderung
von bedeutendem Einfluß sind. Diese Konstruktionen werden als statisch unbestimmte
bezeichnet; ihre Berechnung ist wesentlich schwieriger. Auf diesem Gebiete liegt ein sehr
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