Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Vierter Band. (4)

  
114 Allgemeine Naturwissenschaft; Botanik; Abstammungslehre. X. Buch. 
  
Kritik und Bescheidung. ZIm Zusammenhang damit ist beachtenswert, daß die 
Paläontologie üÜberhaupt nicht mit Sicherheit die 
Vorfahren der Arten und Gattungen, weder die der lebenden noch der ausge- 
storbenen, aufzuzeigen vermag; noch weniger die der großen Hauptabteilungen. Wir 
können uns ausmalen, wie eine Urzelle sich zu einem Wurm fortbildete, der Wurm zu 
einem Manteltier, dies zu einem primitiven Wirbeltier, wie aus letzterem die ersten An- 
fänge der Fische, der Vierfüßer, der Vögel hervorgingen, doch wir kennen in keinem 
Fall die durchlaufenen Gestalten. Sie bleiben hoypothetisch. Ich habe diese hppo- 
thetischen Vorfahren der bekannten Arten einst ihre Phylembryonen genannt, da ich mir 
vorstelle, daß die Fähigkeit, ein Baum, ein Fisch, ein Säugetier zu werden, schon sogut in 
ihnen geschlummert haben mühsse, wie die Eigenschaften eines Kranichs oder einer Rose 
in deren Embryonen. Es ist aber nicht unwahrscheinlich, daß diese Phplembryonen, die 
aufhörten zu sein, sobald sie eine neue, endgültige Form aus sich hervorgebracht hatten, 
meistens von so zartem Bau waren und so wenig Hartteile enthielten, daß kein ver- 
steinerter Rest von ihnen übrig bleiben konnte; auch darin würden sie den Embryonen der 
lebenden Arten ähnlich gewesen sein. Natürlich würde einem solchen Phylembryo ein 
Eigenleben und eine Fortpflanzung zuzuschreiben sein, durch die eine progressiv höhere 
Gestalt in der Reihe der Phplembryonen hervorgebracht wurde. War dann einmal eine 
gewisse Organisationshöhe erreicht, wie die der Blütenpflanzen oder der Säugetiere, 
dann konnte die Umwandlung auf dieser Organisationsstufe auch in die Breite gehen oder 
sich rückläufig gestalten; dann konnten auch Arten mit festen Skeletteilen sich in andere, 
ähnliche Arten umwandeln. Ich glaube, daß folgende Bemerkung, die ich im Jahre 1907 
äußerte, eine richtige Einschätzung der Abstammungslehre zum Ausdruck bringt: 
„Auf keinem Gebiete der zeitgenössischen Naturwissenschaft ist eine kritische Selbst- 
besinnung so nötig, wie auf dem der Abstammungelehre. Diese setzt sich aus relativ wenig 
empirischen und aus desto mehr spekulativen Elementen zusammen. Die Abstammungs- 
lehre ist eine Zdee, wenn man will, eine naturphilosophische Zdee, für deren allgemeine 
Geltung sich wenig erfahrungsmäßige Tatsachen anführen lassen, und die hauptsächlich 
durch die theoretische Erörterung von Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten gestützt 
wird. Sie ist in erster Linie Deutung der Tatsache, daß die Lebewesen in einer so un- 
geheuren Vielgestaltigkeit auftreten, und der Bersuch, den Grund dieser Bielgestaltigkeit 
durch Nachdenken zu finden und wahrscheinlich zu machen. Sie ist nicht Wissen, sondern 
eine Forderung und ein Wunsch unfres Verstandes.“ 
Erfreulich ist, daß wir von einer Uberschätzung der Abstammungslehre zurückkommen 
und unfre Aufgabe als Naturforscher mehr suchen im Beobachten und Experimentieren 
über Abstammung als im Spekulieren. Nur durch beweisbare Ergebnisse einer einwand- 
freien Erfahrung werden wir dahin gelangen, Körner anstatt Spreu zu ernten, sollten 
wir auch weitgehenden Verzicht üben müssen gegenüber manchen Lieblingswünschen. 
Im Laufe der letzten 25 ZJahre ist ein reicher Schatz wahrer Forschungsarbeit auf 
dem Gebiete der Biologie in Deutschland gewonnen worden, und Hunderte von fleißigen 
Beobachtern sind am Werke, diesen Schatz unausgesetzt zu mehren und sicherzustellen. 
AAuch die neuen Forschungsinstitute der Kaiser-Wilhelm-Stiftung werden sich angelegen 
  
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